Wirklichkeit

Zum Verhältnis von Wirklichkeit und Wahrheit

Auszüge aus Kap. 1.3 des Buches (S. 23-30)

Die Wirklichkeit ist die Welt so, wie sie IST; dies ist das Sein. Wir erfahren es in Raum und Zeit im Sinne des Seienden; wenn das abstrakt klingt: Konkret sind damit natürlich die seienden, d.h. existierenden Dinge und Phänomene in der Welt gemeint.
Die Verlaufsform des Wortes zeigt: das Seiende ist ein Prozess in der Zeit. (Um eine Vertiefung dieser Begriffe hat sich in der moderneren Philosophie insbesondere Martin Heidegger bemüht.)

Das Sein bzw. das Seiende ist also nicht statisch, sondern dynamisch anzusehen, denn es befindet sich ja in einer Evolution; diese Welt ist eine werdende, die sich ständig verändert. Daher also:

Die Wirklichkeit ist die Welt so, wie sie IST. Dies ist das Sein in Raum und Zeit im Sinne des Werdenden.

Das schließt aber nicht aus, dass es in dieser Welt eventuell auch Dinge, Kräfte oder Prinzipien mit einem zeitlos unveränderlichen Sein geben kann, wie z.B. Naturgesetze, geistige bzw. logische Gesetzmäßigkeiten, “Kategorien“ z.B. im Sinne von Aristoteles oder Kant, “Ideen“ im Sinne des Philosophen Platon, o.ä.

Die Wirklichkeit ist die Welt so, wie sie im Werden IST. Dieses werdende Sein, dieses Seiende in Entwicklung, ist anscheinend ganz unabhängig davon, ob es in ihm erkenntnisfähige Subjekte wie uns Menschen gibt oder nicht. Denn Milliarden Jahre kam die Welt und unsere Erde ohne uns aus – und niemand hat uns vermisst. Milliarden Jahre gibt es Phänomene wie Sonnen, Raum, Staub, Planeten, Steine, dann auch Pflanzen und Tiere; es läuft eine Entwicklung ab, die wir „Evolution“ nennen, nach physikalischen, mathematischen, evolutionären, biologischen und wahrscheinlich auch nach logisch-geistigen Gesetzmäßigkeiten. Daraus können und müssen wir Menschen schließen, dass es diese Welt und diese Entwicklung unabhängig von unserem eigenen Sein gab und gibt, und dass sie allerdings nicht nur eine Erzeugung oder Illusion unseres eigenen Bewusstseins ist.

Und es ist als unbezweifelbare Erfahrung auch unmittelbar zu sehen:

Wann immer ein Mensch oder irgend ein anderes Lebewesen mit seinem mehr oder weniger komplexen Bewusstsein stirbt, existiert der Rest der Welt weiter.

Lebewesen haben also offensichtlich in dieser Welt eine Ansicht bzw. ein Bewusstsein von dieser Welt.

Das jeweilige Bewusstsein der Lebewesen gibt ihnen ihr jeweils individuelles Erleben und ihre jeweils spezifische Erfahrung von der Welt. Diese Ansicht ist einerseits strukturell bestimmt durch die individuellen Wahrnehmungsorgane und das Potential der Hirnstrukturen bzw. der Auffassungsgabe des Lebewesens; andererseits ist sie inhaltlich insbesondere von den Lebensbedürfnissen und auch der Biografie des Lebewesens bestimmt.

Die Wirklichkeit, – d.h. die Welt so, wie sie im Werden ist, die Evolution bzw. das werdende Sein, das ich vorfinde und in dem ich mich auch selbst befinde und vorfinde –, diese Wirklichkeit war und ist zu jedem Zeitpunkt genau so, wie sie WAR und wie sie IST, mit allen ihren Einzelheiten, die zu jedem Zeitpunkt so sind wie sie SIND, – und zwar auch ganz unabhängig davon, ob sich nun Menschen auf dieser Erde mit ihrem Bewusstsein Gedanken darüber machen oder nicht.

Die spannende Frage und das Thema der Erkenntnisphilosophie ist nun, ob und wie wir Menschen mit unserem Potential an #Erkenntnisfähigkeit herausfinden können, wie die Welt bzw. das Sein in Wirklichkeit ist.

Wir Menschen mit unserer Neugier und unserem Forschungsdrang versuchen ständig, u.a. mittels der Wissenschaft, immer mehr und Genaueres über diese Wirklichkeit herauszufinden. Auf Basis unserer #Wahrnehmungsfähigkeit machen wir Erfahrungen; und wenn wir durch unser Denken etwas Neues herausfinden, mit dem wir dann auch praktisch umgehen können und das, wenn es sich bewährt, also zu stimmen scheint, so sagen wir, wir haben eine neue Erkenntnis gewonnen.

Allerdings müssen wir Erkenntnisse zunächst immer als relativ, d.h. als vorläufig und unsicher ansehen. Denn wir haben die Erfahrung gemacht, dass sie immer nur mehr oder weniger der Wirklichkeit entsprechen, z. B. wenn sie dann doch erst noch vervollständigt, präzisiert oder sogar korrigiert werden müssen. Und wir wissen, dass man sich auch völlig irren kann.

Wenn wir allerdings – angenommen – etwas wirklichkeits(!)-gemäß(!) herausfinden könnten, so können wir dann einer solchen Erkenntnis das Attribut „wahr“ geben; oder kurz gesagt: Eine solche Erkenntnis können wir eine #Wahrheit nennen. Daraus ergibt sich der einfache logische Zusammenhang:

Wahrheit ist wirklichkeitsgemäße Erkenntnis.

Dasselbe etwas genauer formuliert:

Wahrheit ist die Übereinstimmung der menschlichen
(subjektiven) Erkenntnis mit der (objektiven) Wirklichkeit.

Diese Aussage in dieser Formulierung kann allgemeine Geltung beanspruchen, und zwar für den Alltag (Wo habe ich mein Schlüsselbund liegen lassen?), für den Kommissar im Krimi (Wie ist das Opfer wirklich umgekommen?) wie auch für wissenschaftliche Fragestellungen.

Wie nun allerdings diese Übereinstimmung unserer menschlichen Erkenntnis mit der Wirklichkeit zu finden und festzustellen ist, das bleibt bei dieser Formulierung noch völlig offen: Es ist an dieser Stelle noch gar nicht geklärt oder bestimmt, ob Wahrheit im Sinne einer wirklichkeitsgemäßen Qualität unserer Erkenntnis überhaupt möglich ist und wie sie sich konkret manifestieren kann. Dies aufzuzeigen ist der Weg und das Ziel der erkenntnisphilosophischen Darstellung dieses Buches.

Die Formulierung “Wahrheit ist die Übereinstimmung …“ hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der sogenannten Korrespondenz- bzw. Adäquationstheorie, die schon seit Aristoteles die Philosophie zum Thema Wahrheit und Erkenntnis prägt. In Anlehnung an ihn hat dann Thomas von Aquin zu seiner Zeit das Thema Erkenntnis und Wahrheit in eine berühmt gewordene Formel gefasst: „veritas = adaequatio intellectus et rei“ (De veritate 1, 1c). Dies aus dem Lateinischen übersetzt, in einer möglichst allgemeinen Formulierung: Wahrheit ist die Angleichung von menschlichem Verständnis (intellectus) und der Sache oder dem Sachverhalt (res). – Es geht dabei also erkennbar um die gleiche Thematik, die zuvor ausgeführt wurde. Und in diesem Buch wird eine genauere Auseinandersetzung mit dieser Formel von Thomas von Aquin auch stattfinden.

Fazit:

Der Begriff #Wahrheit ist zu dem zugehörig, was der Mensch wirklichkeitsgemäß #erkennen kann. Denn die Wirklichkeit war und ist schon immer so, wie sie zu jedem Zeitpunkt im Laufe der Milliarden Jahre war und ist; aber erst der Mensch steht vor der Frage der Wahrheit und bemüht sich darum auf Basis seiner Fähigkeiten #Wahrnehmung und #Denken.

So kann klar werden: Wahrheit – als die vielleicht höchste Qualität von menschlichem Bewusstsein – gibt es nicht irgendwo in der Welt, sondern sie ist etwas, das sich erst im Bewusstsein erkenntnisfähiger Subjekte manifestieren kann. Im Vergleich dazu: Wirklichkeit IST immer – auch wenn wir nur das Wenigste davon wissen.

Der Ort der Wahrheit ist im Menschen, allgemeiner gesagt im erkenntnisfähigen Subjekt.
Die Wirklichkeit bzw. das Sein ist dagegen alles(!) was IST, einschließlich des erkenntnisfähigen Subjekts. Wirklichkeit ist also gegenüber Wahrheit der umfassendere Begriff: Denn als erkenntnisfähige Subjekte befinden wir Menschen uns ja innerhalb der gesamten Wirklichkeit; wir sind Teil dieser Wirklichkeit bzw. dieses Seins. Und wie der Mensch selbst, so ist auch die Wahrheitsfrage, -suche und -findung im Menschen Teil der gesamten Wirklichkeit.

Epilog:

Die wahre Natur der Wirklichkeit zu erfahren und zu erkennen, das kann als die schönste Frucht der Blüte unserer Erkenntnisfähigkeit angesehen werden. Und anscheinend haben wir das Potential dafür – und vielleicht auch schon von Anfang an die Ahnung davon und die Neigung dazu – mit an Bord unseres Lebens, wenn wir als kleine Menschlein zur Welt kommen und die Augen aufschlagen. Doch offensichtlich können wir nicht mit den möglicherweise krönenden Resultaten unserer Erkenntnisfähigkeit beginnen. Vielmehr fängt unser Lernen und Erkennen immer im Kleinen an, nämlich an existenziell-grundlegenden und altersgerecht-einfachen Dingen der Wirklichkeit. Allerdings ist das Thema Wahrheit und Wirklichkeit de-facto in unserem Leben immer wieder ein Problem – so wie auch für die Philosophie als Ganzes.

Ehe wir uns also an ein Verständnis der letzten Hintergründe dieser Welt überhaupt heranwagen können, ist es sinnvoll und notwendig, im Kleinen und Überschaubaren zu beginnen, die Problematik von Erkenntnis und Wahrheit in den Griff zu bekommen: Es ist möglich, hier zuallererst eine prinzipielle Gewissheit zu erreichen und mit ihrer Hilfe dann das Potential unserer Erkenntnisfähigkeit bewusster und umfangreicher zu erschließen.

Dafür ist dieses Buch geschrieben.

Siehe auch #Begriffsbildung.

4 Gedanken zu „Wirklichkeit“

  1. Ich halte es für ein sehr gelungenes und gut begründetes Werk zum Thema Erkenntnis – untermauert mit viel spiritueller Erfahrung. Mir gefällt, wie Sie sich mit traditionellen Erkenntnistheorien auseinandersetzen und diese zu neuen, phänomenologischen Ansätzen (Husserl, Schmitz) in Beziehung setzen. Ich habe teilweise Mühe mit dem Sprachstil, – das liegt aber auch daran, dass ich generell Probleme mit dem Stil westlicher Philosophie habe. Ich habe auch Probleme mit dem „absoluten“ Wahrheitsanspruch, wie er an manchen Stellen durchscheint – ich glaube es geht eigentlich um die buddhistische „Leere“ – oder irre ich mich? Ich glaube nicht, dass Begriffe wirklichkeitsgemäß für ALLE stehen können – dies hängt aber mit meiner eigenen Auffassung von Sprache zusammen, die weitgehend durch die kognitive Metapherntheorie geprägt ist. Hier habe ich mich gefragt, ob Sie vielleicht Metaphern meinen könnten – da bin ich mir nicht sicher. Insgesamt: Herzlichen Glückwunsch, Sie haben da mit großer Zähigkeit einen „großen Wurf“ in die Welt gebracht!

    1. Rainer Dyckerhoff sagt:

      Sehr geehrter Herr Jäger, zum Sprachstil: Nun ja, philosophische Sprache ist erfahrungsgemäß niemals wirklich flüssig, und ich habe schon sehr viel Arbeit in den Sprachfluss gesteckt. Andererseits hört man immer wieder mal, Deutsch sei eine der besten Sprachen für exakte Philosophie! Das Anglo-Amerikanische hat noch nicht mal einen eigenen Begriff für Erkenntnis: cognition, understanding und realizing sind vieldeutige Worte; mit true-knowing könnte man es auch versuchen, naja …

      Zur buddhistischen „Leere“: Nein, wohl eher nicht; denn die buddhistische “Leere“ oder „Leerheit“ bezieht sich meines Wissens nach ausschließlich auf einen Ausnahmezustand des Bewusstseins, nämlich den der sog. „Erleuchtung“.

      Wirklichkeitsgemäß für ALLE: Dieses Bedenken erscheint mir nicht ganz logisch im Sinne meines Buches; evtl. ist da verständnismäßig etwas noch nicht ganz klar. Denn „Begriff“ ist hier immer ein „persönlicher Begriff“, nämlich unser persönliches Verständnis von der Sache oder Thematik, um die es geht, und zwar so gut bzw. soweit wie wir sie – eben – begriffen(!) haben (vgl. S. 18 + 46 im Buch). Schaut man den Prozess der Begriffsbildung an (dargestellt in Kap. 5), so kann die Begriffsqualität sich steigern von „auto-relationalen“ über „relative“ und „individuelle“ bis hin zu „wirklichkeitsgemäßen“ Begriffen. In der Qualität „individueller“ Begriffe ergänzen sich die Begriffe verschiedener Menschen widerspruchsfrei (vgl. den eingerückten Abschnitt auf S. 33); darüber hinaus, also auf dem Weg zu „wirklichkeitsgemäßen“ Begriffen, nähert sich das Verständnis der Menschen der Sache bzw. Thematik immer noch weiter an, ihr Begriff wird sozusagen immer gleicher. Denn die Sache bzw. Thematik selbst ist ja so wie sie IST, d. h. letztlich für „ALLE“ dieselbe. Beispiel: Was ist eine (oder was ist das Wesen einer) Primzahl? Alle, die’s wirklich begriffen haben, haben den selben Begriff. Das ist in diesem mathematischen Beispiel so vollkommen unzweifelhaft klar, weil der Begriff der Primzahl absolut ein(!)deutig ist – ein sehr schön sprechendes Wort in diesem Zusammenhang. Das Wort Ein(!)sicht ist auch ein schönes in diesem Zusammenhang.

      Metaphern: Nein, das meine ich nicht.

  2. Beim Begriff Wirklichkeit sehe ich die Schwierigkeit, dass sie wahrscheinlich unendlich komplex ist. Jede Erkenntnis, die wir über einen Teilaspekt der Wirklichkeit gewinnen, blendet dann sehr viele (oder unendlich viele) möglichen Erkenntnisse über andere Teilaspekte aus. Da jeder Mensch andere Teilaspekte wichtig findet und herausgreift, unterscheiden sich die Erkenntnisse und Begriffe der Menschen stark. Können wir wirklich sehen und entscheiden, ob sich unser Erkenntnisstand „der Wirklichkeit, so wie sie ist“, annähert? Müssten wir dazu nicht eine Ahnung von der gesamten Komplexität haben, die wir aber praktisch niemals haben können? Das macht m. E. den Maßstab Wirklichkeit und die Eigenschaft „wirklichkeitsgemäß“ problematisch.

    1. Rainer Dyckerhoff sagt:

      Sehr geehrter Herr Kalverbenden, Ihre geäußerten Bedenken und Fragen bestehen völlig zu recht. Die Wirklichkeit ist letztlich „unendlich komplex“, wie Sie sagen. Die Absicht dieses Artikels hier zum Begriff „Wirklichkeit“ war zunächst allerdings nur, ihn in seiner Gesamtgestalt darzustellen bzw. zu charakterisieren und ihn in seinem Verhältnis zum Begriff Wahrheit abzugrenzen.
      Für Ihre daran anschließende Fragestellung verweise ich auf die Seite #Begriffsbildung im Glossar: Dort wird Ihre Fragestellung zum Teil bereits beantwortet, nämlich wie unser Erkenntnisfortschritt im Prinzip immer geschieht und bis zu welchen Ergebnissen er führen kann. Im Buch wird das ausführlich und genau beschrieben, insbesondere die qualitativ verschiedenen Stufen der Genauigkeit bzw. Tiefe unserer Begriffe, von auto-relationalen über relative hin zu individuellen Begriffen. Dort sind die von Mensch zu Mensch jeweils verschiedenen „anderen Teilaspekte“ unserer Erkenntnisbemühungen zu finden, von denen Sie sprechen; und dann schließlich können unsere Erkenntnisse auch allgemeingültiger werden, indem sie sich an die Wirklichkeit annähern und angleichen können, nämlich in Form von wirklichkeitsgemäßen Begriffen von den jeweils ganz konkreten Dingen und Phänomenen.
      Zu Ihrer Fragestellung gibt es dann noch im Epilog einen längeren Abschnitt, in dem die Problematik thematisiert wird, dass unsere Erkenntnisfortschritte leider(!) immer nur peu à peu stattfinden und allzu oft leider auch in nur sehr langwierigen und mühsamen Prozessen, vor allem gesamtgesellschaftlich gesehen. Allerdings besteht für jeden Menschen jederzeit die Möglichkeit, sich übergeordnete Begriffe für die eigene Lebensorientierung aktiv und bewusst zu erarbeiten und dann auch dementsprechend zu handeln. Mit freundlichen Grüßen, R. Dyckerhoff

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