Die vorliegende Darstellung der Erkenntnisphilosophie entstand vor dem Hintergrund, dass die Wahrheitsfrage in der Philosophie nach wie vor als ein ungelöstes Problem gilt. (Auszug aus Kap. 1.1 der Einleitung des Buches)
In der Stanford Encyclopedia of Philosophy heißt es in der Einführung zum Stichwort truth: “Wahrheit ist eines der zentralen Themen in der Philosophie, und eines der umfangreichsten, […] seit tausenden von Jahren. […] Die Frage nach der Wahrheit scheint leicht gestellt: Was sind Wahrheiten, und was macht ihre Wahrheit aus? Aber diese einfache Fragestellung verdeckt eine große Menge von kontroversen Auseinandersetzungen. Ob es ein metaphysisches Problem der Wahrheit überhaupt gibt, und wenn ja, welche Art von Theorie dieses erfassen könnte, all das sind ständige Themen in der Theorie der Wahrheit. Wir werden eine Anzahl verschiedener Wege sehen, diese Fragen zu beantworten.“ (Übersetzung R.D.)
Die Philosophie ist in Bezug auf das Wahrheitsproblem in einem Dilemma: es gibt z.B. viele und ganz verschiedene Wahrheitstheorien und Erkenntnistheorien. Und generell gibt es sehr verschiedene philosophische Traditionen und Denkgebäude mit ihren jeweiligen Grundsätzen, Theorien, Ansichten und Meinungen. Das zeigt sich z.B. an den vielen „Ismen“ der Philosophie, z.B. den Arten Idealismus, Rationalismus, Realismus, Materialismus, Konstruktivismus, Existenzialismus, usw., und sie alle gibt es noch in jeweils verschiedenen Spielarten, unterschiedlichen Zeiträumen und Kulturen. Im Laufe der Geschichte sind auf diese Weise viele und unterschiedliche Antworten auf mannigfaltige Fragen und Probleme gegeben worden. Interessierte können sich dadurch anregen lassen und vorgeschlagene Problemlösungen bedenken. Wer sich angesprochen fühlt, kann dann auch Anschauungen davon übernehmen, gewöhnlich solche, die ihm als passend erscheinen, also etwa gemäß seinen persönlichen geistigen Überzeugungen, z.B. gemäß dem, was ihm selbst als „vernünftig“ oder „in sich schlüssig“ erscheint, oder auch gemäß seiner subjektiven psychischen Befindlichkeit, die sich auch auswirken kann. Eine solche Auswahl bzw. Entscheidung passt dann zwar zu einem selbst, zur eigenen Subjektivität; auf diese Weise ist allerdings noch nicht geklärt, welche von diesen philosophischen Kategorien bzw. welche Aspekte von ihnen nun eigentlich zu wahren Ergebnissen führen.
Das Wahrheits-Problem scheint also schwierig zu sein und ist in der Philosophie umstritten und letztlich noch ungelöst; auch ein Konsens bzw. Kompromisse verschiedener Wahrheits- und Erkenntnistheorien scheinen nicht möglich. So hat sich daraufhin in der Wissenschaftstheorie – verbunden mit einer guten Portion Relativismus und Skeptizismus – die Ansicht gebildet: Die Wahrheitsfrage können und müssen wir beiseite lassen; vielmehr können wir immer nur zunehmend bessere Hypothesen, Modelle und Theorien über die Wirklichkeit aufstellen und versuchen, diese mit immer besseren geistes-wissenschaftlichen Argumenten und natur-wissenschaftlichen Beweisen zu belegen. Diese Methode gilt heute als ein zeitgemäßes und grundlegendes wissenschaftliches Axiom. – Nun, das kann man zwar so postulieren und auch entsprechend verfahren. Aber diese Methode kann für den menschlichen Geist letztlich doch grundsätzlich unbefriedigend sein, weil die Frage nach der Wahrheit auf diese Weise nur umgangen wird und also unerfüllt bleibt. Denn konzeptuelles Denken in Form von Vorstellungen, Theorien, Hypothesen, Systemen und konstruierten Modellen über die Wirklichkeit liefert allerdings keine Erkenntnis bzw. kein Bewusstsein von der Wirklichkeit selbst, vielmehr nur verschiedene Versionen einer Art Landkarten-Bewusstsein, die jeweils immer verschiedene Abstraktionen der Wirklichkeit darstellen. – Die zuvor erwähnten natur- und geisteswissenschaftlichen Beweise können daher auch nicht mehr sein als Versuche, die Gültigkeit der jeweiligen Landkarte zu bestätigen.
Diese Situation der Erkenntnistheorie bietet natürlich beliebig viele Anlässe für allerdings meist ergebnislose Diskussionen; sie ist vor allem die Plattform für potentiell endlose intern-philosophische Auseinandersetzungen, deren Relevanz für die allgemeine Öffentlichkeit, die alltägliche Lebenspraxis und für die schwerwiegenden existenziellen Problematiken der Menschheit sich in der Regel nur schwerlich erschließen lassen.
Die vorliegende Darstellung der Erkenntnisphilosophie bietet eine genaue und auch allgemeinverständliche Beschreibung der Erkenntnisfähigkeit des Menschen, darauf aufbauend eine Analyse ihres Potentials, und schließlich einen konkreten Ansatz zur Lösung des zuvor skizzierten philosophischen Wahrheitsproblems – insbesondere durch ein vertieftes Ausloten und eine neue Interpretation der sogenannten „Adäquationsgleichung der Wahrheit“ des Thomas von Aquin.