Leseprobe

Rainer Dyckerhoff: Erkenntnisphilosophie

Eine Darstellung, Analyse und Systematisierung der Grundlagen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit auf der Basis eines rein phänomenologischen Zugangs

Inhaltsverzeichnis

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Überblick (Abschnitt 1.2 aus der Einführung)

Die beiden Grundfähigkeiten, die uns als Basis zur Erkenntnisgewinnung immer zur Verfügung stehen, sind: 

a) unsere Wahrnehmungsfähigkeit mit allen unseren Sinnesorganen, und 

b) unsere Denkfähigkeit (inclusive Gedächtnis). 

Sie sind die notwendigen und hinreichenden Grundfähigkeiten für die Erkenntnisbildung.
Sie werden in Kap. 2 und 3 genau erläutert.

Unsere Wahrnehmungsfähigkeit bezieht sich immer auf Phänomene. Das sind mittels unserer Sinne wahrgenommene Phänomene wie z.B. Dinge, Naturerscheinungen, Lebewesen, Gefühle (die wir erleben), Tätigkeiten (die wir sehen), Geräusche, Aussagen (die wir hören), Lebenssituationen, Entwicklungen, Probleme usw.

Wichtig ist hier allerdings: Phänomen im engeren Sinne ist das, was wir mittels der Sinnesorgane unmittelbar wahrnehmen können, oder genauer formuliert das, was mittels der Sinnesorgane unmittelbar unserer Wahrnehmungsfähigkeit gegeben ist, also z.B. Geräusche, so wie man sie hört, oder das Bild oder Elemente eines Bildes, so wie man es bzw. sie vor Augen hat.

Dabei geschieht ein wichtiges Bewusstseinsereignis, nämlich der Moment, dass man ein Phänomen als existierend erlebt und erfährt: Etwas Existierendes wird nun bewusst als DA-seiend erlebt und in Gestalt der aktuellen Wahrnehmung als Phänomen erfahren. Philosophisch gesprochen ist dies dann eine ”perzeptive Entität”. Dass dieser Moment bzw. dieses Ereignis tatsächlich geschieht, das lässt sich exemplarisch an kleinen Kindern beobachten: Man kann sehen und miterleben, wie sie etwas für sie Neues und bisher Unbekanntes mit großen Augen und gespannter Aufmerksamkeit fokussieren und verfolgen, dann “Ta!” rufen und oft auch noch mit dem Finger hinzeigen. Gewöhnlich sagen wir Erwachsene ihnen dann den zugehörigen Namen und erklären noch etwas dazu, was die Sache erläutern soll, um dem Kind ein anfängliches Verständnis zu geben; nun, so hoffen oder beabsichtigen wir es jedenfalls.

Sobald man ein Phänomen genauer anschaut und erforscht, so wird man mehr darüber erfahren, Einzelheiten kennenlernen, Zusammenhänge finden, usw. Auf diese Weise erweitert sich (unter Mitwirkung des Denkens, s.u.) unsere Erfahrung mit dem Phänomen und wir lernen es immer besser kennen. Der Umfang unserer Wahrnehmung entwickelt sich also in einem Prozess: unsere Wahrnehmung des Phänomens kann vielfältiger und vollständiger werden.

Phänomen ist immer das, was man persönlich wahrnehmen kann an bzw. von einer Sache, einer Situation, usw. – und zwar alles, was im direkten Zusammenhang damit steht.

Die einfachste Form der uns Menschen möglichen Erkenntnisfähigkeit scheint zunächst zu sein, den wahrgenommenen Erscheinungen oder Phänomenen Namen zu geben und sie miteinander in Beziehung zu setzen. Denn so beginnen ja kleine Kinder zu lernen, anfangs natürlich an einfachen Dingen.

Würde man aber bei der Vorstellung von Erkenntnis stehenbleiben, dass den Dingen und Phänomenen einfach nur Namen gegeben werden, dann würde man in einer Art von „Nominalismus“ stecken bleiben, denn: Ein Name oder ein Wort zu einem Phänomen ist noch kein Verständnis bzw. kein Begriff von einem Phänomen.

Worte für sich sind nämlich nur “Schall-und-Rauch“ (auch wenn sie schon eine lange Geschichte haben und mit schwerwiegenden Inhalten ‚aufgeladen‘ sein können); bei Worten, die einem in der eigenen oder einer fremden Sprache bislang unbekannt sind, kann man das eindeutig feststellen. ‚Hinter‘ Worten aber stehen jeweils Bedeutungen bzw. Begriffe, nämlich das, was jeweils mit den Worten gemeint ist.  Genauer: Ein Wort, Name, Zeichen (z.B. ein bestimmtes Verkehrsschild) oder sonstiges Symbol ist jeweils eine Bezeichnung(!) für(!) ein Etwas, das mit dem Wort, Zeichen usw. gemeint ist ; doch unser Begriff ‚hinter‘ oder von diesem Wort, Zeichen usw. ist unser jeweiliges persönliches Verständnis(!) von(!) diesem Etwas.

Einem Kind werden also zu dem, was es wahrnehmen kann, bestimmte Namen bzw. Worte angeboten, die in unserer Sprache gebräuchlich sind – Worte, die es als bestimmte und unterscheidbare Laute hört. Diese Laute sind für ein Kind also zunächst auch nur Wahrnehmungen!

In der Folge läuft im Bewusstsein des Kindes ein Prozess ab, der alle Wahrnehmungen (einschließlich der Wortlaute, die es hört) versucht zu koordinieren, nämlich in Verhältnisse und Zusammenhänge zu bringen. Und genau das macht unser Denken, unsere zweite Grundfähigkeit zur Bildung von Erkenntnis, und zwar ständig und ganz automatisch:

Das Denken versucht, die wahrgenommenen Sinneseindrücke bzw. wahrgenommenen Phänomene in wirklichkeitsgemäße und logische Zusammenhänge bzw. Zuordnungen zu bringen. – Das ist die Grundfunktion von Denkfähigkeit.

Denken ist bei uns Menschen in unserem Großhirn mit einem hohen Potential angelegt. Allerdings gibt es die Fähigkeit, z.B. Geräusche und Laute mit bestimmten Gegenständen und Ereignissen in Verbindung zu bringen, auch schon bei den höher entwickelten Tierarten, wie man empirisch z.B. von Rattenversuchen weiß: Wenn hier ein ganz bestimmtes Klingelzeichen, dann da gutes Fressen. Das Denken im vorsprachlichen Bewusstsein der Tiere hat also z.B. auch eine Wenn-dann-Logik, im Prinzip anscheinend vergleichbar wie bei uns Menschen. – Dies müsste also von der Hirnforschung auch bestätigt werden können.

Durch das Denken stellt sich Erfahrung gleichsam in Form von Aha-Erlebnissen ein, und zwar einerseits in Form von gesichert-gefundenen Zuordnungen von Wortlauten zu Phänomenen und Gegenständen, andererseits auch in Form von entdeckten bzw. verstandenen Zusammenhängen von Phänomenen und Gegenständen untereinander.
Durch den Umgang des Denkens mit wahrgenommenen Phänomenen entsteht also aus zunächst rein sinnlichen Wahrnehmungseindrücken – einschließlich der gegebenen Wortlaute bzw. Namen zu bestimmten Wahrnehmungseindrücken – ein Erfahrungsbewusstsein von Zusammenhängen dieser Phänomene. Darauf aufbauend entsteht allmählich auch ein Bewusstsein von Gegenständen und dann auch Bewusstsein von Zusammenhängen von Gegenständen mit anderen sinnlichen Wahrnehmungseindrücken.

Erfahrungsbewusstsein und basal-einfache Erkenntnis ist die Erfahrung des erfolgreichen Gelingens der (ständig automatisch stattfindenden) Versuche des Denkens, die wahrgenommenen Phänomene in wirklichkeitsgemäße Zusammenhänge zu bringen.
Diese Möglichkeit bzw. Fähigkeit eines Erfahrungsbewusstsein, aufbauend auf den zwei Grundfähigkeiten Wahrnehmen und Denken, haben wir im Prinzip mit der Tierwelt gemeinsam und von ihr sozusagen geerbt. Darüber hinaus ist uns Menschen eine gesteigerte Erkenntnisfähigkeit durch Begriffsbildungs-Prozesse möglich, die wiederum auf den Grundfähigkeiten Wahrnehmen und Denken aufbauen.

Von Kleinkindzeiten an ist unser menschliches Lernen und Gewinnen von Erfahrung ein immer wieder neuer, individueller und offener Prozess, in dem wir auf Basis unserer Sinnesorgane Erfahrungen machen, die sich uns körperlich, gefühlsmäßig und auch im Gedächtnis einprägen. Ab einem gewissen Zeitpunkt lernen Kinder dann zunehmend konkret und bewusst auch mit Worten. 

Worte für sich sind allerdings, wie zuvor schon gesagt, nur “Schall-und-Rauch“. Hinter Worten stehen aber jeweils Bedeutungen bzw. Begriffe, nämlich das, was jeweils mit den Worten gemeint ist: ‚hinter‘ den Worten, die wir Menschen als Symbol bzw. Name für die Phänomene benutzen, befinden sich in unserem Bewusstsein immer unsere jeweils persönlichen Begriffe von den Phänomenen, d.h. also immer unser jeweiliges persönliches und aktuelles Verständnis von dem Phänomen, das wir mit einem Wort bezeichnen und meinen.

Begriffsbildung ist die Kernthematik dieser Arbeit. Dieses Wort ist aber nicht unproblematisch. Denn Menschen, die sich noch nicht viel mit Philosophie beschäftigt haben, wissen wahrscheinlich nicht, was damit genau gemeint ist. Und philosophisch Vorgebildete haben in der Regel ihre jeweils eigene Interpretation dieses Wortes. Damit keine Missverständnisse auftreten, zunächst folgende wichtige Klarstellung:

„Begriff“ bezeichnet in dieser Arbeit nicht bereits festgelegte, vereinbarte oder „definierte“ (Fach-) Begriffe. Vielmehr gilt folgendes:
Der Begriff in einem zunächst allgemeinen Sinne ist unser persönliches Verständnis von einer Sache bzw. einem Phänomen, nämlich unser persönliches Verständnis so oder soweit, wie wir die Sache bzw. das Phänomen persönlich erfahren, aufgenommen, verstanden und – eben – begriffen haben.

Eine philosophisch genaue Formulierung dieses persönlichen Verständnisses lautet z.B. so: Mein Begriff von … (der-und-der Sache) ist … (so-und-so). – Um den immer individuellen und subjektiven Prozesscharakter der Begriffsbildung und Erkenntnisgewinnung in diese Formulierung noch hineinzubringen: Mein persönlicher Begriff von … (der-und-der Sache) ist bisher … (so-und-so).

Erkenntnisphilosophisch betrachtet ist unser Lernen von Kindesbeinen an immer eine individuelle persönliche Begriffsbildung zu den Dingen und Phänomenen der Welt, die uns begegnen und interessieren. Bei Kleinkindern setzt dieser Prozess schon ein, bevor sie Worte für ihre Erfahrungen haben. In diesem Zusammenhang ist also von einem vorsprachlichen Erfahrungsbewusstsein auszugehen, das wir im Prinzip auch vergleichbar mit der Tierwelt haben und das die Vorstufe für unsere menschliche Fähigkeit zur Begriffsbildung ist. 

In unseren persönlichen Begriffen zu bzw. von den Dingen und Phänomenen speichern wir unsere zunehmende Erfahrung und unser Verständnis aus dem Umgang mit den Dingen und Phänomenen.

Im Zuge unseres Lernens sind unsere persönlichen Begriffe, d.h. unser jeweiliges subjektives persönliches Verständnis der Dinge und Phänomene dieser Welt, zunächst meistens nur mehr oder weniger zutreffend und vollständig. D.h. wir haben in der Regel zunächst nur mehr oder weniger zutreffende Vorstellungen vom Phänomen: unsere subjektiven (Sinnes-) Wahrnehmungen, Erfahrungen und Erlebnisse, unsere Informationen dazu, unsere eigenen Ansichten, Meinungen und Schlussfolgerungen; und vielleicht sind auch fragwürdige Überzeugungen, Vermutungen und Vorurteile dabei. Wir haben also, mit anderen Worten, zunächst immer nur ein relatives Begriffsverständnis, aber noch nicht ein wirklichkeits- oder wahrheitsgemäßes Begriffsverständnis von der Sache-selbst.

Die wirklichkeitsgemäße Qualität von Begriffen ist die Kernthematik dieser Arbeit und – wie sich herausstellen wird – der Kern der Lösung der Wahrheitsfrage.

Der Hauptteil dieser Arbeit wird sich den Inhalten dieses einführenden Abschnitts genauer widmen: Kap. 2 wird sich mit der Thematik der #Wahrnehmung, soweit relevant für diese Arbeit, genauer beschäftigen, Kap. 3 mit der Thematik des #Denkens. Von Kap. 4 an geht es dann um #Begriffsbildung und Erkenntnis.

Ausblick auf das Ergebnis dieser Arbeit:

Wahrheit, im Sinne einer wirklichkeitsgemäßen Qualität unserer Erkenntnisfähigkeit, hängt insbesondere von der wirklichkeitsgemäßen Qualität unserer Begriffe ab, mit denen wir umgehen und denken:
Das Potential der menschlichen Erkenntnisfähigkeit ist wirklichkeitsgemäße Erkenntnis mittels wirklichkeitsgemäßer Begriffe. Auf diese Weise erreichte bzw. gefundene wirklichkeitsgemäße Erkenntnis können wir dann Wahrheit nennen.

Wirklichkeitsgemäße Begriffe werden durch jeweils wesensgemäße Erfahrung der Phänomene, Dinge, Prozesse, Lebewesen, usw. gewonnen. Das heißt, genauer formuliert:
Wirklichkeitsgemäße Begriffe werden gewonnen durch ein miterlebendes Verständnis bzw. durch ein verstehendes Miterleben mit dem Wesen der Phänomene, Dinge, Prozesse, Lebewesen usw., die in der Welt sind.

Die wahre Natur der Wirklichkeit zu erfahren und zu erkennen, das kann als die schönste Frucht der Blüte unserer Erkenntnisfähigkeit angesehen werden. Und anscheinend haben wir das Potential dafür – und vielleicht auch schon von Anfang an die Ahnung davon und die Neigung dazu – mit an Bord unseres Lebens, wenn wir als kleine Menschlein zur Welt kommen und die Augen aufschlagen. Doch offensichtlich können wir nicht mit den möglicherweise krönenden Resultaten unserer Erkenntnisfähigkeit beginnen. Vielmehr fängt unser Lernen und Erkennen immer im Kleinen an, nämlich an existenziell-grundlegenden und altersgerecht-einfachen Dingen der Wirklichkeit. Allerdings ist das Thema Wahrheit und Wirklichkeit de-facto in unserem Leben immer wieder ein Problem – so wie auch für die Philosophie als Ganzes.

Ehe wir uns also an ein Verständnis der letzten Hintergründe dieser Welt überhaupt heranwagen können, ist es sinnvoll und notwendig, im Kleinen und Überschaubaren zu beginnen, die Problematik von Erkenntnis und Wahrheit in den Griff zu bekommen: Es ist möglich, hier zuallererst eine prinzipielle Gewissheit zu erreichen und mit ihrer Hilfe dann das Potential unserer Erkenntnisfähigkeit bewusster und umfangreicher zu erschließen.

Dafür ist dieses Buch geschrieben.


 

Ein Gedanke zu „Leseprobe“

  1. Thomas Bartsch Hauschild sagt:

    Erkenntnis liegt ein Ereignis zu Grunde – mit der äusseren Sinnerfassung, sehen, hören, riechen und schmecken – ein Bild ergibt – ein Gedanke – sich daran erinnern. Ein Fotoalbum des Lebens – einzigartig und individualistisch – nur im Dialog – werden Konturen wahrhaftig durch Wiederholung sichtbar gemacht. REFLEXION ist ein Hilfsmittel im Nachdenken.

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