Ein phänomenologischer Diskurs zwischen Jens Jürgen Korff und Rainer Dyckerhoff
Der Mannheimer Ingenieur und Philosoph Rainer Dyckerhoff empfahl 2021 in dem Buch »Erkenntnisphilosophie«, auf dem Wege einer fortschreitenden Begriffsbildung das Wesen von Phänomenen zu beschreiben und auf diese Weise wahre Aussagen über Teile der Wirklichkeit zu treffen. Er hat vier Stufen der persönlichen Begriffsbildung definiert: autorelationale Begriffe auf Stufe 1, relative Begriffe auf Stufe 2, individuelle Begriffe auf Stufe 3, wirklichkeitsgemäße Begriffe auf Stufe 4.
Anlässlich der Bundestagswahl 2025 versuchen Dyckerhoff und der Bielefelder Historiker Jens Jürgen Korff, diese phänomenologische Methode auf einige zentrale Themen des Wahlkampfes anzuwenden. Nach den Themen Steuern und Bürokratie wenden sie sich zuletzt dem Thema Stolz zu. Sie tun das in Form von Sokratischen Dialogen, also nach dem Vorbild von Sokrates und seinen Diskussionspartnern.
Rainer Dyckerhoff: Nun, da Friedrich Merz zum Bundeskanzler gewählt wurde, können wir daran erinnern, dass er und seine Partei, die CDU, im Bundestagswahlkampf mit dem Wort »Stolz« aufgetreten sind. Eine ihrer Parolen lautete: »Ein Deutschland, auf das wir wieder stolz sein können«. Was könnte Merz mit diesem Stolz meinen?
Jens Jürgen Korff: Das ist in der Tat ein politisch sehr fragwürdiges Wort. Denn Stolz ist ein Gefühl, eine Emotion, also etwas Privates und Persönliches. Ein einzelner Mensch kann in bestimmten Situationen stolz sein, also Stolz empfinden. Wie kommt Merz darauf, dass man dieses Gefühl verallgemeinern, kollektivieren könne? Wie kann ein persönliches Gefühl eine politische Kategorie sein?
RD: Gibt es in der Geschichte vielleicht vergleichbare Fälle? Wurden auch andere persönliche Gefühle als politische Botschaften eingesetzt?
JJK: Ja, vor allem die Angst, oder die Furcht vor eingebildeten Gefahren. Berüchtigt ist das CDU-Wahlplakat von 1953 mit dem mongolischen Riesen am Horizont und der Parole »Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau«. Die Adenauer-CDU versuchte damals, die jahrhundertealte Furcht vor einem Mongoleneinfall gegen die SPD zu wenden, auch unter direktem Rückgriff auf die Goebbels-Propaganda.
RD: Das ist zweifelsohne eine schlimme Traditionslinie. Bezogen auf unser Thema „persönliche Gefühle als politische Botschaft“ scheint mir die Furcht aber ein Beispiel dafür zu sein, dass persönliche Gefühle durchaus kollektiv werden können. Gerade bei der Furcht ist es wohl oft der Fall, dass eine größere Gruppe Menschen gemeinsam in Furcht gerät.
JJK: Das stimmt. Das hängt damit zusammen, dass die Gefahr, auf die sich die Furcht richtet, tatsächlich alle Menschen in der Gruppe bedrohen kann. Stolz dagegen wird aus einer persönlichen Leistung abgeleitet. Die kann nicht kollektiv sein. Wenn ich stolz auf etwas bin, dann hebt mich das ja gerade gegenüber den anderen ab. Ich hab’s geschafft und die anderen nicht.
RD: Merz‘ Parole erinnert an Trumps Parole »Make America great again«. Vielleicht bringt uns ein Vergleich damit weiter. Was ist dort anders, und was ist gleich oder ähnlich?
JJK: Ähnlich ist, dass auch die Trump-Parole den Nationalstolz vieler US-Amerikaner adressiert und versucht, ihn auf Trumps politische Mühlen zu lenken. Ähnlich ist auch das »again«, das »wieder«: Beide Parolen behaupten, der Stolz sei verloren gegangen und müsse nun wiedergefunden werden. Abgesehen davon, dass »MAGA« geografisch irreführend ist – USA und Amerika sind nicht identisch – benennt sie im Unterschied zur CDU-Parole das adressierte persönliche Gefühl nicht, sondern formuliert ein Ziel politischer Natur – ein großartiges Land USA – und überlässt es den angesprochenen Personen, ob sie darauf stolz sein wollen. Das Schräge an der CDU-Parole ist, dass das Gefühl selbst ihr Gegenstand ist.
RD: Das macht sie plumper. Aber wie sieht es mit dem Persönlichen und dem Kollektiven aus?
JJK: Die MAGA-Parole funktioniert bei vielen, weil sie sich selber großartig fühlen möchten und offenbar hoffen, dass das in einem »großartigen Amerika« besser gehen wird. Der kollektive Stolz weckt die Hoffnung auf persönlichen Stolz. Oder er kompensiert einen erlittenen Verlust an persönlichem Stolz, etwa bei Arbeitern, die ihren Job in der Industrie verloren haben.
Der direkte deutsche Vorläufer von Merz‘ Parole zu Stolz war die Parole »Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein«. Die wurde in den 1990er Jahren von deutschen Nationalisten und Faschisten benutzt. Damals gab es Aufnäher mit dieser Parole.
RD: Ja, ich erinnere mich. Es gab dann auch einen öffentlichen Streit über die Frage, ob man wirklich darauf stolz sein könne, ein Deutscher zu sein.
JJK: Bundespräsident Johannes Rau hat 2001 dazu Stellung genommen und in einem Interview bestritten, dass man darauf stolz sein könne, ein Deutscher zu sein. Man könne nur auf Leistungen stolz sein, die man selbst geschafft habe. Niemand habe selbst etwas dazu beitragen können, ein Deutscher zu sein.
RD: Macht es einen Unterschied, dass die damalige Parole als Ich-Botschaft formuliert war, während Merz‘ Parole als Aufforderung an alle formuliert ist?
JJK: Ja, das macht einen Unterschied. Die Parole »Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein« ist ein persönliches Bekenntnis – zwar sehr fragwürdig, aber sie wahrt wenigstens den persönlichen Charakter des Gefühls Stolz. Merz dagegen versucht, das Gefühl zu verallgemeinern und zu politisieren. Er tat das erstmals im September 2024, als die CDU/CSU ihn zum Kanzlerkandidaten nominiert hatte. Allerdings implizierte auch die 1990er-Parole schon eine Verallgemeinerung. Ich höre die unausgesprochene Folgefrage: „Und du etwa nicht?“
RD: Wir müssen offenbar, ähnlich wie bei der Bürokratie, zwischen mindestens zwei Ebenen des Wortes Stolz unterscheiden. Sie haben zuerst vom persönlichen Gefühl gesprochen, und Rau hat es noch genauer gefasst: Stolz ist ein persönliches Gefühl, das mit persönlich erbrachten Leistungen zusammenhängt.
JJK: Oh, damit ist vielleicht schon ein erster relativer Begriff von Stolz formuliert; Ihre Formulierung könnte sogar schon ein kleiner individueller Begriff sein, denn sie bringt einen zutreffenden Teilaspekt von Stolz auf den Punkt – wenn ich Ihre Kategorien von Begriffsqualitäten richtig verstanden habe.
RD: Ja. Nun, der Punkt stammt aus der Rede eines Bundespräsidenten; das setzt ja ein gehobenes Reflexionsniveau voraus. Was ich sagen wollte…
JJK: …dass ich in einem anderen Satz von »Nationalstolz« gesprochen habe? Das scheint dann doch noch etwas anderes zu sein als ein persönliches Gefühl.
RD: Sie sagen es. Das ist offenbar die zweite Ebene des Wortes Stolz. Um einen zutreffenden Begriff von Stolz zu gewinnen, sollten wir allerdings noch genauer fassen, wie Stolz mit persönlichen Leistungen zusammenhängt.
JJK: Das geht über die soziale Reputation oder Anerkennung. Darauf deutet die Körperhaltung hin, die „stolzgeschwellte Brust“, mit der Stolz artikuliert wird, wohl vor allem von Männern. Wer stolz auf etwas ist und das zum Ausdruck bringt, fordert soziale Anerkennung ein, also einen höheren sozialen Status. Auch das spricht eigentlich gegen den kollektiven Stolz. Den höheren Status habe ich ja gerade im Unterschied zu den anderen. Aber zunächst zu unserem präzisierten Begriff. Ein anderer wichtiger Aspekt von Stolz wäre dann: Stolz ist ein persönliches Gefühl, das soziale Anerkennung für eine persönlich erbrachte Leistung einfordert.
RD: Interessant! Wie Sie sehen, kommt auch die persönliche Ebene des Stolzes nicht ohne die anderen aus.
Nationalstolz als Problem
JJK: Ja, aber die Gefühle des Stolzen und seiner Mitmenschen unterscheiden sich. Der Nationalstolz dagegen tritt als gemeinsam empfundenes Gefühl einer großen Gruppe auf und beruht möglicherweise auf einer gezielten Manipulation von Massen.
RD: Möglicherweise! Es könnten aber auch Gefühle sein, die parallel bei vielen Menschen zugleich auftreten und einen gemeinsamen Resonanzraum bilden. Wie Hartmut Rosa wohl sagen würde.
JJK: Vielleicht so etwas ähnliches wie Begeisterung. Die kann sich in einer Menschenmenge, etwa einem Publikum, kollektiv herausbilden, indem begeisterte Reaktionen der Nachbarin den Nachbarn in seiner Begeisterung bestärken. Doch Merz ist über diese Ebene noch hinausgegangen. Sein Satz hat fast normativen Charakter: Er setzt voraus, dass es eigentlich so sein müsste, dass „wir“ stolz auf Deutschland sind, dass uns irgendwer oder irgendwas bislang daran gehindert hat, und dass jetzt er kommt und dafür sorgt, dass „wir wieder“ so stolz werden können, wie es sich gehört oder wie es Deutschland geziemt. Ich bemerke darin eine autoritäre Note. Da will mir jemand entweder ein Gefühl verordnen, das ich nicht teile, oder mich aus der Gemeinschaft der Gemeinten ausschließen.
RD: Möchten Sie aus diesem subjektiven Gefühl gegenüber Stolz heraus einen autorelationalen Begriff formulieren, den wir hier ja bisher noch nicht betrachtet haben?
JJK: Ja. Nationalstolz ist ein Gefühl, das so tut, als ob es mein persönliches Gefühl wäre, zu dem ich aber von einer herrschenden Figur oder Gruppe gedrängt werde. Dieses Gefühl versucht, eine eigentlich ganz allgemeine Begebenheit wie meine Nationalität mit einer Bedeutung aufzuladen, die sie für mich gar nicht hat.
RD: Das ist wohl ein fruchtbarer Begriff von Nationalstolz, der uns auf eine höhere begriffliche Ebene weiterhelfen kann; denn er versucht, das Verhältnis zwischen den beiden Ebenen, der persönlichen und der politischen, in Worte zu fassen. Meine Frage an den relativen Begriff von Johannes Rau wäre, ob es nicht doch eine Ebene von Stolz geben kann, die über den Bezug auf die eigene persönliche Leistung hinausgeht. Jeder von uns kennt ja, denke ich, Situationen, in denen wir so etwas wie Stolz empfinden, obwohl wir nicht selber etwas geleistet haben: Stolz auf den Sieg der „eigenen Mannschaft“, Stolz auf die gesellschaftliche Stellung der Eltern, auf die Heimatstadt… Wenn ein Land in einer bestimmten Disziplin besonders leistungsfähig ist, kann dann nicht „das Land“, das heißt konkret in Gestalt der Mehrheit seiner Bürger, darauf auch stolz sein?
JJK: Vermitteln zwischen diesen Ebenen könnte der Stolz auf eine kollektiv errungene Leistung: etwa der Stolz auf den Sieg der Mannschaft, der man selber angehört, der Stolz auf ein Theaterstück oder Chorkonzert, das man gemeinsam mit anderen aufgeführt hat. Hier bin ich selbst durchaus mit dabei. Wogegen mir der Stolz auf den sagenhaften Fleiß der Deutschen oder auf die Heimatstadt eher kindisch vorkommt. Ja, ich empfinde das Glück, in der schönen Stadt Aachen aufgewachsen zu sein, ich bin dankbar dafür, ich zeige sie anderen gerne; bin auch dankbar für die wunderbaren Wälder und Flüsse, Berge und Küsten, die mein Heimatland Deutschland zu bieten hat; aber Stolz scheint mir das falsche Wort dafür zu sein. Es kollidiert mit der selbstlosen Freude oder auch Demut, die ich zugleich mit dem genannten Glück empfinde.
RD: Demut und Stolz – da sollten wir noch genauer hinsehen. Ich bleibe zunächst beim Problem des Persönlichen und des Kollektiven. Was finden Sie kindisch an dem Stolz auf den gemeinsam erlebten Fleiß der Deutschen?
JJK: Ich bezweifle, dass die Deutschen fleißiger sind als andere Völker. Dieser Eindruck scheint vor allem auf Einbildung und auch auf einer permanenten Indoktrination zu beruhen. Unsere Infrastruktur war zwar relativ gut, aber nicht besser als in Dänemark, den Niederlanden, Belgien, Frankreich oder der Schweiz. Und jetzt geht sie an allen Ecken und Enden kaputt.
RD: Wie sieht es mit der deutschen Kultur und Literatur aus? Das ist ein Feld, auf dem Sie selber tätig sind.
JJK: Ja, das ist richtig. Ich will es so sagen: Ich bin nicht stolz darauf, dass Goethe den »Faust« und Heine das »Wintermärchen« und Anna Seghers das »siebte Kreuz« geschrieben haben, oder darauf, dass ich dieselbe Muttersprache spreche, in der diese Werke geschrieben sind. Es ist eher umgekehrt: Als literarisch begabter Sprecher der deutschen Sprache fühle ich mich verpflichtet, Werke zu schaffen, die sich im Umfeld solcher großen Werke sehen und hören lassen können. Wenn mir das gelingt, dann bin ich stolz auf das kollektive Werk »deutsche Literatur«, zu dem ich einen kleinen Beitrag geleistet habe.
RD: Wir könnten uns einem individuellen Begriff von Stolz annähern, indem Sie versuchen, diesen Schritt von der individuellen zur kollektiven Leistung auszuformulieren.
JJK: Ich versuche es: Stolz ist zunächst ein persönliches Gefühl, das soziale Anerkennung für eine persönlich erbrachte Leistung einfordert. Wenn diese Leistung Teil eines Gesamtwerks ist, zu dem auch andere Menschen beigetragen haben, kann ein gemeinsamer Stolz dieser Menschen auf das gemeinsam geschaffene Werk entstehen. Dieser gemeinsame Stolz bildet sich leichter unter Menschen, die eine gemeinsame Sprache sprechen und gemeinsamen Gesellschaftsstrukturen angehören, weil es dann eher zu gemeinsamen Werken kommt. – So bin ich denn einen Schritt auf die von Merz betonte nationale Ebene zugegangen, ohne im Zusammenhang mit Stolz das historisch besudelte und zurecht veraltete Wort »Nation« zu benutzen.
RD: Bestens! Sie haben persönliche und zufallsbedingte Ressentiments hinter sich gelassen, haben einen erkannten Widerspruch aufgelöst und sind auf der dritten Ebene, der der individuellen Begriffe, angekommen. Wir können es wagen, den vierten Schritt zum wirklichkeitsgemäßen Begriff ins Auge zu fassen. Ich rekapituliere die noch offenen Fragen und Themen: Da war der angesprochene Gegensatz von Stolz und Demut. Gilt Stolz nicht sogar im christlichen Glauben als Sünde? Da war, nicht zu vergessen, Ihr anfangs geäußerter Verdacht, dass mit dem Wort Stolz Massen manipuliert werden können. Der Verdacht könnte berechtigt sein.
Stolz, Demut, Selbstmitleid, Prahlerei
JJK: Gut, also Stolz und Demut. Der Widerspruch wurde in der Tat auch im Christentum thematisiert, etwa von Augustinus, und Stolz galt im alten Christentum als Sünde, weil sich stolze Menschen – so sah es Augustinus im 4. Jahrhundert – über Gott hinwegsetzten oder sich gar mehr dünkten als Gott. Das erscheint uns heute arg übertrieben und wir nennen das dann eher Hochmut oder Arroganz. Auch scheint es umgekehrt tyrannisch zu sein: Augustinus war offenbar jedes menschliche Selbstbewusstsein ein Dorn im Auge, weil selbstbewusste Menschen schlechte Untertanen sind. Aber tatschlich empfinde auch ich als Nicht-Christ einen Widerspruch zwischen Stolz und Demut. Gerade solche Dinge wie die Schönheit meiner Heimat oder der deutschen Literatur machen mich eher demütig und dankbar. In diese Haltung passt Stolz nicht hinein. Ich habe die Landschaft meiner Heimat nicht gemacht, sie ist nicht mein Verdienst. Ich empfange sie als Geschenk.
Der Theologe Trevin Wax hat sich mit dem weit verbreiteten Selbstmitleid auseinander gesetzt. Er sieht es als eine Form des Stolzes an, die, christlich gesprochen, eine Sünde sei, weil sie uns vom Mitleid mit anderen, also von der christlichen Barmherzigkeit und Nächstenliebe abbringe. Er sagt: Stolze Menschen prahlen, wenn sie sich stark fühlen, und baden im Selbstmitleid, wenn sie sich schwach fühlen. In beiden Fällen erheischen sie damit eine besondere Aufmerksamkeit der Mitmenschen, die ihnen angeblich zustehe. Das gleiche Statusding wie vorhin besprochen. In diesem Zustand sind sie unfähig, Empathie für andere zu empfinden oder Dankbarkeit für das Gute, das ihnen zuteil wurde. Wir kennen solche Situationen aus unerquicklichen persönlichen Gesprächen. Selbstmitleidige Menschen vermiesen sofort die Stimmung. Prahlhänse auch. Das ist wohl die weltliche Seite der christlichen Kategorie Sünde im Zusammenhang mit Stolz.
RD: OK, das ist ein guter Punkt. Selbstmitleid und Prahlerei haben beide etwas Maßloses an sich. Wer Leistung über alles stellt – und vor allem die eigene –, der entfernt sich schnell von einem Gefühl auch für seine Mitmenschen und für das Ganze des Seins überhaupt. Können wir dieses Problem beim Stolz über das Werkzeug des Maßes begrifflich zu fassen kriegen?
JJK: Ja, das ist eine gute Idee. Ich formuliere also den Zusatz: Stolz kann maßlose Formen wie Machtgehabe, Prahlerei und Selbstmitleid annehmen. In dieser Form wirkt er destruktiv auf zwischenmenschliche Beziehungen, weil er konstruktive Emotionen wie Empathie und Dankbarkeit blockiert. Christen deuten übermäßigen Stolz in diesem Sinne als Sünde.
RD: Sehr gut. Jetzt fehlt noch die Gefahr der Manipulation. Wir haben hier ja eine politische Parole aufgegriffen, die Friedrich Merz mehrfach benutzt hat. Wir können davon ausgehen, dass solche Parolen immer Emotionen der angestrebten Wählergruppen bedienen sollen. Ist Stolz als Emotion dafür besonders gut geeignet?
JJK: Der so genannte Nationalstolz ohne Frage; sicher eine der beliebtesten Emotionen, die vor allem von konservativen und rechtsradikalen Politikern seit dem späten 19. Jahrhundert instrumentalisiert werden. Vorher war der Stolz auf die eigene Nation noch eine Angelegenheit der Liberalen, weil die Konservativen an den alten vornationalen Fürstentümern festhielten. Seit etwa 1870 setzen konservative Kräfte und Regierungen in Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Russland und USA auf Nationalismus und »Nationalstolz«, um große Teile des Volkes hinter ihrer Rüstungspolitik zu versammeln, und um soziale Konflikte in den Ländern zu überspielen. Noch 1982 konnte die konservative britische Premierministerin Margret Thatcher im Falklandkrieg eine große Welle des britischen Nationalstolzes auslösen und im Pomp eines nationalmilitärischen Triumphs die drohende Wahlniederlage abwenden. Die drohte ihr vorher wegen ihrer Angriffe auf den britischen Sozialstaat. Das Gefühl, das Thatcher 1982 benutzt hat, war die gekränkte Eitelkeit einer ehemaligen Weltmacht: »Britannia rule the waves!« Das Gefühl, das Merz zurzeit instrumentalisiert, ist die gekränkte Eitelkeit einer ehemaligen industriellen Führungsmacht, in der sich viele noch nicht daran gewöhnen können, dass die chinesische und die indische Industrie inzwischen viel größer und stärker sind als die deutsche.
Daraus abgeleitet kann ich formulieren: In seiner Form als Nationalstolz wurde und wird die Emotion Stolz von bestimmten Politikern oft gezielt angefacht und genutzt, um Mehrheiten für umstrittene politische Ziele und vor allem für militärische Maßnahmen zu gewinnen, und auch, um soziale Konflikte zu verschleiern.
RD: „Verschleiern“ enthält eine negative Wertung und unterstellt böse Absichten. Für einen wirklichkeitsgemäßen Begriff ist das Wort nicht geeignet. Es könnte ja auch sein, dass eine Seite einen sozialen Konflikt angeheizt hat und jemand an den gemeinsamen Nationalstolz appelliert, um dieses Extrem zu mäßigen.
JJK: Gut, dann sagen wir: um von sozialen Konflikten abzulenken. Das erscheint mir neutral.
RD: Die Floskel „bestimmte Politiker“ ist recht nebulös.
JJK: Aber kaum genauer zu fassen. Nationalstolz ist zwar immer eine nationalistische Nummer, aber in diese Kerbe haben schon viele gehauen, aus diversen Lagern.
RD: Vielleicht besser „manche Politiker“, und ohne das „oft“. Ich fasse den ganzen Begriff zusammen:
Stolz ist zunächst ein persönliches Gefühl, das soziale Anerkennung für eine persönlich erbrachte Leistung einfordert. Wenn diese Leistung Teil eines Gesamtwerks ist, zu dem auch andere Menschen beigetragen haben, kann ein gemeinsamer Stolz dieser Menschen auf das gemeinsam geschaffene Werk entstehen. Dieser gemeinsame Stolz bildet sich leichter unter Menschen, die eine gemeinsame Sprache sprechen und gemeinsamen Gesellschaftsstrukturen angehören, weil es dann eher zu gemeinsamen Werken kommt.
Mit dem Phänomen Stolz sind vor allem zwei Probleme verbunden: er kann einerseits maßlose Formen wie Machtgehabe, Prahlerei und Selbstmitleid annehmen. In dieser Form wirkt er destruktiv auf zwischenmenschliche Beziehungen, weil er konstruktive Emotionen wie Empathie und Dankbarkeit blockiert. Christen deuten übermäßigen Stolz in diesem Sinne als Sünde.
Andererseits wurde und wird Stolz in seiner Form als emotionaler Nationalstolz von manchen Politikern gezielt angefacht und genutzt, um Mehrheiten für umstrittene politische Ziele, vor allem auch für militärische Maßnahmen zu gewinnen und um von sozialen Konflikten abzulenken.