Erkenntnis

Das Wesen der Bürokratie – oder ist es ein Popanz?

Ein Sokratischer Dialog zwischen Rainer Dyckerhoff und Jens Jürgen Korff

Der Mannheimer Ingenieur und Philosoph Rainer Dyckerhoff empfahl 2021 in dem Buch »Erkenntnisphilosophie«, auf dem Wege einer fortschreitenden Begriffsbildung das Wesen von Phänomenen zu beschreiben und auf diese Weise wahre Aussagen über Teile der Wirklichkeit zu treffen. Er hat vier Stufen der persönlichen Begriffsbildung definiert: autorelationale Begriffe auf Stufe 1, relative Begriffe auf Stufe 2, individuelle Begriffe auf Stufe 3, wirklichkeitsgemäße Begriffe auf Stufe 4.

Anlässlich des Bundestagswahlkampfes 2025 versuchen Dyckerhoff und der Bielefelder Historiker Jens Jürgen Korff, diese phänomenologische Methode auf einige zentrale Themen des Wahlkampfes anzuwenden. Nach dem Thema Steuern wenden sie sich nun dem Thema Bürokratie zu. Sie tun das in Form von Sokratischen Dialogen, also nach dem Vorbild von Sokrates und seinen Diskussionspartnern. (Auch als Artikel auf Linkedin)

Rainer Dyckerhoff: Im Wahlkampf ist viel von Bürokratie die Rede, meist in abwertender Weise. Doch was ist da eigentlich gemeint? Können wir das Wesen der Bürokratie näher bestimmen? Oder ist mit dem Wort Bürokratie vielleicht etwas anderes gemeint, ein anderes Phänomen im Hintergrund?

Jens Jürgen Korff: Das ist bei solchen abwertenden Worten in der Tat oft der Fall. Wenn zum Beispiel von Ausländerkriminalität gesprochen wird, dann legen die geforderten politischen Maßnahmen nahe, dass eigentlich etwas anderes gemeint ist: die Anwesenheit von ausländischen Flüchtlingen überhaupt, ganz unabhängig davon, ob einzelne davon Straftaten begangen haben. Es geht in dem Diskurs eigentlich um das Asylrecht, und die so genannte Ausländerkriminalität ist ein Popanz dafür, eine Art Woodoo-Figur. Bei der Bürokratie könnte es ähnlich sein. Spontan scheint mir, dass damit alle Gesetze und Verordnungen gemeint sind, die bestimmten Teilen der Gesellschaft lästig sind.

RD: Da hätten wir den ersten autorelationalen Begriff, den Sie, vermutlich aus einer persönlichen Antipathie gegen „bestimmte Teile der Gesellschaft“ heraus, formuliert haben. Andererseits frage ich Sie, ob Sie sich noch niemals über die Art geärgert haben, wie eine Behörde mit Ihnen umgegangen ist.

JJK: Das ist sicher schon vorgekommen. In dem Moment habe ich aus spontanem Ärger vielleicht gesagt: Bürokratie ist, wenn mich jemand zwingt, ein fünfzehnstelliges Aktenzeichen, eine siebzehnstellige Versicherungsnummer vorzubeten, ehe ich gnädigerweise die Erlaubnis bekomme, mein persönliches Anliegen vorzutragen.

Herrschaft von Verwaltungsaspekten über andere Aspekte eines Prozesses

Besonders ekelhaft geht es wohl zuweilen in Ämtern zu, die Sozialleistungen zu vergeben haben, hört man. Ich selber hatte auch schon mit solchen Ämtern zu tun, blieb dort aber von Erniedrigungen verschont. Hier sehen wir die andere Seite des Wortes Bürokratie, die wörtliche – Bürokratie heißt wörtlich: Herrschaft eines Büros, das pedantisch nach Vorschriften handelt, ohne aktuellen Gegebenheiten Rechnung zu tragen. Also Herrschaft von Verwaltungsaspekten über andere Aspekte eines Prozesses. Die negative Bewertung, die dabei mitschwingt, speist sich aus der Assoziation: Da sind Leute, denen die Ordnung ihrer Akten wichtiger ist als das Leben und Wohlergehen der betroffenen Menschen.

RD: Jetzt haben Sie, nach dem zweiten autorelationalen Begriff, dem mit dem Aktenzeichen, bereits einen relativen Begriff von Bürokratie entwickelt, der sich aus der Konstruktion des Wortes –

JJK: Aus der Etymologie, sagt man fachlich.

RD: – gut: der sich aus der Etymologie des Wortes ableiten lässt und zugleich erklärt, warum das Wort so unsympathisch wirkt. Zugleich wird aber deutlich, dass wir praktisch über zwei Phänomene reden: Bürokratie im wörtlichen Sinne als das Benehmen von Behörden gegenüber Bürgern und Bürokratie als politische Floskel, die möglicherweise ein anderes, eigentlich gemeintes Phänomen verdeckt. Wenn dem so ist, werden wir auch das Verhältnis zwischen den beiden Phänomenen klären müssen, um zu einem wirklichkeitsgemäßen Begriff zu kommen.

JJK: Ja, das erscheint mir plausibel. Was könnte gemeint sein, wenn die FDP plakatiert: „Bürokratie runter, Netto rauf“? Oder wenn der Bauernverband gegen die „EU-Bürokratie“ wettert, die den Bauern vorschreibt, dass sie dokumentiern müssen, wie viel Nitratdünger sie auf ihre Felder werfen? Diese Parolen und Kämpfe versuchen, einen Gegensatz zwischen wirtschaftlicher Tätigkeit und Wohlstand auf der einen Seite und staatlicher Tätigkeit, also Gesetzen und ihrer Durchsetzung und Kontrolle durch Regierungen und Behörden, auf der anderen Seite zu behaupten. Diese Entgegensetzung stammt aus den 1980er und 1990er Jahren und bekam damals das Etikett »neoliberal«. Ein zentrales Element »neoliberaler« Politik, etwa von Präsident Reagan in den USA, war die so genannte Deregulierung, also der Abbau von Gesetzen und Vorschriften, die angeblich die Tätigkeit der Unternehmen behinderten. Die Deregulierung wurde auch »Bürokratieabbau« genannt. Ein daraus abgeleiteter Begriff könnte also lauten: Als Bürokratie bezeichnen neoliberale Politikerinnen und -tiker Gesetze und Vorschriften, die die wirtschaftliche Tätigkeit von Unternehmen einschränken, und deren Kontrolle durch Staatsorgane.

Als Begründung verweisen sie meist auf den Konkurrenzkampf auf dem Weltmarkt, der „uns“ – in Wirklichkeit sind das einige Unternehmen – angeblich dazu zwingt, Kosten zu sparen, also zum Beispiel Löhne und Umweltstandards zu senken.

RD: Sie nähern sich damit thematisch wieder ihrem ersten autorelationalen Begriff, aber diesmal als relativer Begriff, also auf einer besser reflektierten und historisch begründeten Ebene. Allerdings haben wir nun den Teufel, das politische Schlagwort »Bürokratie«, mit dem Beelzebub ausgetrieben, dem politischen Schlagwort »neoliberal«. Das schreit nun seinerseits nach einer Begriffsbildung. Auch wäre zu untersuchen, ob sich diese Vorstöße gegen alle oder nur gegen bestimmte Gesetze richten, die die Wirtschaft betreffen, und die Frage, ob die Kritik an diesen Gesetzen vielleicht berechtigt ist. Oder noch grundsätzlicher gefragt: mit welchem Recht der Gesetzgeber überhaupt in die wirtschaftliche Tätigkeit von Unternehmen eingreift. Ist ist die Abwehr solcher Eingriffe nicht legitim?

Interessenkonflikte zwischen Einzelunternehmen und dem Staat als Wahrer der Menschenrechte

JJK: Gesetze, die die wirtschaftliche Tätigkeit von Unternehmen beschränken, gibt es schon sehr lange. Es gab sie schon im 17., 18. und 19. Jahrhundert. Ein traditionelles Beispiel ist das Bergrecht, das noch viel ältere Wurzeln hat, das so genannte Bergregal. Es besagt, dass bestimmte Bodenschätze, zum Beispiel Gold und Silber, nicht dem Grundbesitzer gehören, auf dessen Gebiet sie gefördert werden, sondern dem König, dem Landesherrn oder später den Ländern. So haben sich zunächst die Könige den exklusiven Zugriff auf Münzmetalle gesichert, in Deutschland und Frankreich auch die Kontrolle über Brennstoffe wie Kohle, Erdöl und Erdgas. Ein anderes Beispiel sind die Arbeitsschutzgesetze, die bis auf das Jahr 1839 zurückgehen. Damals schränkte der preußische König die Kinderarbeit in Fabriken ein, um die Schulpflicht der Kinder durchzusetzen und auch, weil viele Rekruten bei der Musterung durch Kinderarbeit so geschwächt waren, dass sie als Soldaten untauglich waren. 1918 setzte die deutsche Arbeiterbewegung durch, dass der Arbeitstag der Industriearbeiter per Gesetz auf acht Stunden begrenzt wurde. Später kamen weitere Felder der Gesetzgebung hinzu, etwa der Umweltschutz. Die Parlamente und Regierungen wollten nicht länger hinnehmen, dass Unternehmen Flüsse und Seen und die Atemluft der Menschen hemmungslos verschmutzten und vergifteten. Mein Beispiel mit dem Bauernverband und den Nitraten gehört in dieses Feld. Die Gesetzgeber der EU dulden nicht länger, dass die Bauern das Grundwasser hemmungslos mit Nitraten versalzen, aus dem wir das Trinkwasser für die Bevölkerung gewinnen. Kampagnen gegen angebliche Bürokratie spiegeln solche Interessenkonflikte zwischen Einzelunternehmen und dem Staat als Wahrer der Menschenrechte wider.

RD: Taugt diese Feststellung vielleicht für einen individuellen Begriff, der das Problem mit dem umstrittenen Wort »neoliberal« vermeidet?

JJK: Ja, das könnte gehen. Etwa so: Hinter dem politischen Schlagwort Bürokratie verbergen sich oft Interessenwidersprüche: Einzelunternehmen und einzelne Bürger haben ein Interesse daran, in ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit nicht von Gesetzen und staatlicher Aufsicht eingeschränkt zu werden. Der Gesetzgeber hat ein ebenso berechtigtes, in der Verfassung verankertes Interesse daran, die Lebensverhältnisse der Menschen so zu regeln, dass die Menschenrechte aller Menschen gewahrt bleiben und von Kollateralschäden wirtschaftlicher Tätigkeiten geschützt werden. Entsprechende Maßnahmen werden von betroffenen Akteuren oft als Bürokratie empfunden und kritisiert.

RD: Das klingt jetzt in der Tat ausgewogen und kann als individueller Begriff von Bürokratie gelten,  also als ein wirklichkeitsgemäßer Teilaspekt von Bürokratie; denn damit wurde von Ihnen ein problematischer Aspekt von Bürokratie völlig richtig erfasst. Wir sind einen Schritt weitergekommen. Ich ergänze die Frage: Gilt das nur für wirtschaftliche Tätigkeiten oder auch für andere, zum Beispiel die Mobilität der Bürger? Auch fehlt zu einem wirklichkeitsgemäßen Begriff noch der Bezug zu dem anderen Sinn von Bürokratie, den wir besprochen hatten: Bürokratie als Herrschaft von Verwaltungsaspekten. Wir wissen, dass Behörden die Tendenz haben können, in mehr Prozesse einzugreifen, als für ein freies Spiel der Kräfte gut sein kann, oder gar den Krümmungswinkel von Gurken festlegen wollen.

JJK: Die berüchtigte „EU-Bürokratie“ – jene Verordnung, die Güteklassen für Gurken definierte, wurde zum Bedauern des Handels und der Bauern 2009 abgeschafft. Die mussten sie dann durch selbstgemachte Regeln ersetzen, denn die Güteklassen wurden weiterhin gebraucht. Auch das angebliche Parkinsonsche Gesetz, nach dem sich Verwaltungen im Selbstlauf stets vergrößern, stelle ich in Abrede. Aus dem Umwelt- und Naturschutz ist mir bekannt, dass die zuständigen Umweltämter viel zu wenig Personal haben, um die Einhaltung wichtiger Umwelt- und Naturschutzgesetze wirksam kontrollieren zu können. Und wie man liest: Die Veterinärämter schaffen es nicht, die Fleischproduktion so zu überwachen, dass alle Fleischkonsumenten von Gammelfleisch verschont bleiben. Die Planungsämter schaffen es nicht, die Pläne für die Reparatur von Brücken rechtzeitig fertig zu kriegen, um bestimmte Fördermittel abfragen zu können. Staatsanwaltschaften und Gerichte schaffen es nicht, schwierige Fälle von Steuerbetrug aufzuklären. Überall zu wenig Personal statt zu viel, wie jener legendäre Parkinson launig behauptet hatte.

RD: Richtet sich die Kritik nicht eher gegen die Parlamente, die möglicherweise übermäßig komplizierte Gesetze verabschieden, die dann von anderen kaum zu kontrollieren sind?

JJK: Ja, auch da ist was dran, aber, wiederum aus der Erfahrung im Umwelt- und Naturschutz gesprochen: Die Gesetze werden zumeist durch die Lobbyarbeit der betroffenen Unternehmen selbst so kompliziert. Es sind die Unternehmerverbände, die eine ursprünglich einfache gesetzliche Regelung mit tausend Ausnahmetatbeständen und Aufschüben durchlöchern.

RD: Ich wiederhole meine Frage: Gibt es solche Interessenwidersprüche nur bei wirtschaftlichen Tätigkeiten oder auch anderso?

JJK: Es gibt sie auch anderswo, denn die kritisierten Gesetze setzen häufig bei Endverbrauchern an. Etwa das Heizungsgesetz, das so scharf kritisiert wurde: Es greift in die Entscheidungsfreiheit von Hausbesitzern ein, die eine neue Heizungsanlage brauchen. Ähnlich war es bei der Einführung der Abgaskatalysatoren für Autos; da waren die Autobesitzer betroffen.

RD: Andererseits können wir Konsumentscheidungen ebenfalls als wirtschaftliche Tätigkeiten sehen, dann deckt die Formulierung solche Fälle mit ab. Doch gerade auf der Konsumebene wird ein weiterer Aspekt des Themas sichtbar: das Gefühl von Menschen, dass sie durch Vorschriften gegängelt werden. Ich denke, das müssen wir in einen wirklichkeitsgemäßen Begriff mit aufnehmen.

JJK: Ja. An der Stelle, scheint mir gerade, kommen auch die beiden Seiten von Bürokratie, die wir am Anfang unterschieden hatten, wieder zusammen. In der Abwehr von Bürokratie äußert sich die Unlust, sich bei privaten Entscheidungen Vorschriften machen zu lassen, die andere Aspekte ins Spiel bringen, Aspekte, die ursprünglich für die private Entscheidung keine Rolle spielten – zum Beispiel der Klimaschutz oder die Gesundheit von Mitmenschen. Man wird durch die Vorschriften dazu gezwungen, Rücksicht auf andere Menschen oder die Natur zu nehmen. Das kann ärgerlich sein. Zugleich haben Vorschriften immer bürokratischen Charakter im direkten Wortsinne: Sie üben eine Herrschaft von Verwaltungsaspekten aus, weil sie widerstrebende Interessen in Kategorien einordnen, die Einzelfälle verallgemeinern und dann schematisch bewerten. Das ist immer unscharf und potenziell umstritten: Man kann darüber streiten, ob ein Einzelfall in die richtige Kategorie eingeordnet und angemessen bewertet wurde.

RD: Es kann auch sein, dass es gar nicht effektiv ist, Rücksicht auf andere mit Vorschriften und Verboten durchzusetzen. Vielleicht wäre es effektiver, rücksichtsvolles Verhalten staatlicherseits zu belohnen und rücksichtsloses Verhalten durch höhere Steuern oder ähnliches zu verteuern. Dann bleibt die Entscheidung des einzelnen frei von Gängelung. Der Konsument oder Unternehmer kann dann abwägen, was ihm wichtiger ist.

JJK: Solche Mechanismen gibt es schon lange, zum Beispiel den Emissionshandel: Unternehmen dürfen in der EU bestimmte Mengen CO2 ausstoßen, wenn sie das Recht dazu erworben haben. Wem das zu teuer ist, überlegt sich, wie er seinen CO2-Ausstoß verringern kann. Doch leider hat sich herausgestellt, dass solche Mechanismen das Bürokratieproblem nicht lösen. Es bleibt ein bürokratischer Prozess, Emissionszertifikate auszustellen und vor allem: zu kontrollieren, ob die Unternehmen tatsächlich nur so viel CO2 ausstoßen, wie sie laut ihren Zertifikaten durften. Auch hier haben Unternehmerverbände das ursprünglich einfache System mit Dutzenden von Ausnahmen durchlöchert und dadurch sehr kompliziert gemacht. Wenn wir »rücksichtslose Produkte« höher besteuern, etwa mit einem höheren Mehrwertsteuersatz, bleibt das Problem, dass alle Produkte und Dienstleistungen entsprechend kategorisiert werden müssen, dass die Umsatzsteuererklärungen komplizierter werden usw. Streit darüber wird es wohl immer geben.

Gibt es Mechanismen, die rücksichtsvolles Verhalten belohnen?

RD: Gibt es denn Mechanismen, die rücksichtsvolles Verhalten belohnen?

JJK: Eher selten, scheint mir. Das könnte tatsächlich ein Manko der uns bekannten Staatsordnungen sein. Es könnte zum Beispiel eine negative Kraftfahrzeugsteuer für Leute geben, die mit dem Fahrrad oder mit dem Bus zur Arbeit fahren. Eine Art Bonus auf die Einkommensteuer, eine steuerliche Belohnung für Leute, die nicht mit ihrem Auto pendeln. Das Zeter und Mordio von ADAC, VDA, CDU, CSU, FDP und AfD wäre unbeschreiblich. Sie glauben nicht, wie heilig der Autopendler in Deutschland ist. Je schwerer das Auto, desto heiliger.

RD: Vorsicht! Hier lockt Sie der Abgrund der auto-relationalen Begriffe.

JJK (lacht): In der Tat. Gut also: phänomenologische Disziplin bitte! Wie kriegen wir all diese Gedanken jetzt begrifflich zusammengefasst? Im Moment bin ich etwas ratlos.

RD: Blicken wir zurück! Wir hatten bereits einen individuellen Begriff gefunden, in dem es um die Interessenwidersprüche ging, die entstehen, wenn der Staat die wirtschaftlichen Tätigkeiten von Unternehmen und Konsumenten einschränkt, um so etwas wie ein Allgemeinwohl durchzusetzen. Das wollten wir jetzt noch verbinden mit der Bürokratie im Wortsinne, also der Herrschaft von Verwaltungsaspekten, und mit dem Gefühl vieler Menschen, in ihren Entscheidungen gegängelt zu werden.

JJK: Gut, ich versuche mein Glück!

Bürokratie ist einerseits ein Verhältnis zwischen Ämtern und den dort verwalteten Anliegen von Bürgerinnen und Bürgern, gesehen aus dem Blickwinkel der letzteren. Sie sprechen von Bürokratie, wenn sie den Eindruck haben, dass ihre Anliegen gegenüber schematischen Verwaltungsinteressen des Amtes unterliegen.

Bürokratie ist andererseits ein politisches Schlagwort, das einen Interessenwiderspruch benennt: Das Interesse von Einzelunternehmen und Einzelpersonen, sich in ihren wirtschaftlichen Tätigkeiten frei zu entscheiden, kollidiert mit dem Interesse des Gesetzgebers, Menschenrechte und andere Motive des Gemeinwohls auch in Wirtschaftsbeziehungen durchzusetzen. Solche Eingriffe werden von Betroffenen oft kritisiert und als Bürokratie empfunden und bezeichnet, auch wenn sie objektiv sinnvoll und notwendig sind und auf Verfassungsaufträgen und demokratisch beschlossenen Gesetzen beruhen, die zwischen widerstreitenden Interessen abwägen.

Da Vorschriften stets allgemeingültig sind, müssen sie Einzelfälle in Kategorien einordnen und schematisch behandeln. Das kann in Konfliktfällen zu dem Eindruck führen, dass persönliche Anliegen hinter schematischen Verwaltungsinteressen zurückstehen müssen.

RD: Das ist ein individueller Begriff auf hohem Reflexionsniveau, der schon nahe an einen wirklichkeitsgemäßen Begriff herankommt. Gratulation!

JJK: Danke. Was fehlt aus Ihrer Sicht noch an einem wirklichkeitsgemäßen Begriff?

RD: Der Aspekt mit dem Parkinsonschen Gesetz. Sie haben das zwar begründet zurückgewiesen; gleichwohl könnte eine Tendenz von Verwaltungen vorhanden sein, immer mehr Tätigkeiten unter ihre Kontrolle zu bekommen und die eigene Macht zu vergrößern. Auch das steckt, zumindest als Verdacht, in dem Wort Bürokratie.

JJK: Ja, der Verdacht liegt nahe. Eine solche Tendenz würde dem menschlichen Bedürfnis entsprechen, den eigenen Machtbereich und die eigenen Ressourcen auszudehnen. Doch dagegen steht, gerade bei Beamten, das Motiv, sich zusätzliche Aufgaben vom Halse zu halten. Ein Running Gag der Bürokratiekritik ist ja gerade der faule Beamte, der sich routinemäßig für nicht zuständig erklärt und den Bürger von Pontius zu Pilatus schickt. Weil diese beiden Klagen einander diametral widersprechen, möchte ich sie nicht in den wirklichkeitsgemäßen Begriff aufnehmen.

RD: Vielleicht bleibt dieser Punkt zwischen uns offen und es bleibt immer ein offener Punkt, eine stets nur im Einzelfall zu entscheidende Problematik der Legislative, was eigentlich wie und wie genau gesetzlich geregelt werden muss. Das heißt, es geht in der Politik auch darum, wachsam zu sein, welche gesetzlichen Regelungen wirklich notwendig und sinnvoll sind. Wenn das Regeln übertrieben wird und zu einer Art Regelungswut ausartet, dann dürfen wir das zu Recht als Bürokratie beschimpfen.

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