Erkenntnis

Das Wesen der Steuern

Ein Sokratischer Dialog zwischen Rainer Dyckerhoff und Jens Jürgen Korff

Der Mannheimer Ingenieur und Philosoph Rainer Dyckerhoff empfahl 2021 in dem Buch »Erkenntnisphilosophie«, auf dem Wege einer fortschreitenden Begriffsbildung das Wesen von Phänomenen zu beschreiben und auf diese Weise wahre Aussagen über Teile der Wirklichkeit zu treffen. Er hat vier Stufen der persönlichen Begriffsbildung definiert: autorelationale Begriffe auf Stufe 1, relative Begriffe auf Stufe 2, individuelle Begriffe auf Stufe 3, wirklichkeitsgemäße Begriffe auf Stufe 4.

Anlässlich des Bundestagswahlkampfes 2025 versuchen Dyckerhoff und der Bielefelder Historiker Jens Jürgen Korff, diese phänomenologische Methode auf einige zentrale Themen des Wahlkampfes anzuwenden, und beginnen mit dem Thema Steuern. Sie tun das in Form von Sokratischen Dialogen, also nach dem Vorbild von Sokrates und seinen Diskussionspartnern. (Auch als Artikel auf Linkedin)

Rainer Dyckerhoff: Was sind Steuern eigentlich? Was könnte das Wesen der Steuern sein?

Jens Jürgen Korff: Wenn ich an Steuern im Zusammenhang mit dem Wahlkampf denke, dann gefällt mir an ihnen, dass Merz, Lindner, Weidel und ihre Fans sich ständig über sie ärgern. Da es mich freut, wenn die sich ärgern, finde ich Steuern gut.

RD: Das ist Ihre persönliche Ansicht aus einer rein subjektiv-betroffenen, nur auf Sie selbst bezogenen Sichtweise. Möglicherweise haben Sie schon einmal von Zuschüssen aus Steuermitteln profitiert. Ein anderer würde vielleicht sagen: Steuern sind Zwangsabgaben, die man mir abknöpft, also bin ich entschieden dagegen. So etwas nenne ich autorelationale Begriffe. Das ist nichts Schlimmes, denn so fängt der Begriffsbildungsprozess gewöhnlich an. Sie merken aber, dass Sie sehr nahe an einer persönlichen Emotion geblieben sind und ziemlich viele Aspekte des Themas Steuern ausgeblendet haben?

JJK (lacht): Natürlich! Ich wollte am Anfang ein bisschen provozieren. Gut, ich werde also jetzt sachlicher, damit wir weiterkommen. Ich könnte jetzt nachschlagen, ob es eine Art offizielle Definition von Steuern gibt, zum Beispiel im Grundgesetz.

RD: Das würde unseren Dialog hier ausbremsen und den Rahmen der persönlichen Begriffsbildung verlassen. Wir wollen hier über unsere persönlichen Begriffe sprechen, die wir jeweils im Kopf haben, wenn wir ein Wort wie Steuern benutzen. Und lieber nicht über Definitionen, wie es sie für Fachbegriffe gibt. Denn sobald wir auf diese Ebene gehen, streiten wir uns wahrscheinlich nur noch darüber, wer von uns die relevantere Autorität zitiert hat.

JJK: Ja, genau, und dann darüber, wer die Autorität „richtiger“ interpretiert. Das sind unfruchtbare Diskussionen; ich stimme Ihnen zu. Ich bleibe also zunächst bei meiner persönlichen Erfahrung und stelle fest: Steuern – das sind zum Beispiel die Mehrwert- oder Umsatzsteuer und die Einkommensteuer. Die Mehrwertsteuer wird fällig, wenn ich etwas kaufe, die Einkommensteuer, wenn ich Geld verdiene. Daraus lässt sich vielleicht schon ein sachlicherer Begriff bilden: Steuern sind Geldsummen, die auf der Grundlage meines eigenen Wirtschaftens berechnet werden und die ich als Bürger an den Staat abtreten muss, weil das gesetzlich vorgeschrieben ist.

RD: In der Tat sind wir damit schon einen Schritt weitergekommen. Das ist jetzt ein relativer Begriff von Steuern. Sie haben bereits einbezogen, in welchem Rahmen Steuern fällig werden und wie Sie sie bezahlen müssen. Der Staat steckt dahinter, und Sie haben zwei Beispiele genannt, wo die Steuern hergenommen werden. Gibt es noch weitere Quellen?

JJK: Ja, aber wenn wir schon vom Staat reden, drängt sich mir als nächste Frage die nach dem Zweck der Steuern auf: Was macht der Staat mit dem Geld? Wozu braucht er es? Das erscheint mir zunächst wichtiger als die Frage nach den Quellen.

RD: Gut, dann machen Sie da weiter. Ich halte unterwegs fest, Steuern haben zwei Seiten: Woher kommen sie und wohin gehen sie? Ich werde darauf achten, dass wir die Frage, woher sie kommen, am Ende noch genauer beleuchten.

JJK: Als Historiker ist mir klar: Der Zweck der Steuern besteht in Deutschland darin, den Bundeshaushalt, die Landeshaushalte und die städtischen Haushalte zu finanzieren. Also alle staatlichen Leistungen, die der Bundestag, die Landtage und die Stadt- und Gemeinderäte zu übernehmen beschlossen haben. Wenn die Landtage zum Beispiel beschlossen haben, dass alle Kinder ab sechs Jahren schulpflichtig sind und Anspruch auf kostenlosen Schulunterricht haben, dann sind Steuern erforderlich, um Schulen und Lehrerinnen finanzieren zu können. Ich folgere mithin: Steuern sind Geldsummen, die die Bürger von Gesetz wegen an den Staat abgeben müssen, damit dieser gemeinnützige Aufgaben wie Schulunterricht für alle Kinder organisieren kann. Sie werden auf der Grundlage des Wirtschaftens der Bürgerinnen berechnet.

RD: Damit haben Sie den relativen Begriff noch weiter verfeinert und sind auf dem Wege zum individuellen Begriff. Sie haben ein Beispiel für Zwecke genannt, die der Staat mit Hilfe der Steuern verfolgt. Das Beispiel mit der Schule gibt dem Begriff eine positive Färbung, weil die meisten Menschen Schulunterricht für alle Kinder befürworten. Würden Sie ein anderes Beispiel wählen, zum Beispiel die Bundeswehr und ihre Rüstungsausgaben, könnte die Sache anders aussehen. Wer Militär und Rüstung ablehnt, kann auch den Steuern, die er zahlt, verübeln, dass sie für solche Zwecke verwendet werden.

Ich denke, es ist hier zunächst wichtig, sich einen genaueren Überblick über die tatsächlichen Kernaufgaben des demokratischen Staates zu verschaffen, die er mit Hilfe der Steuereinnahmen verfolgt.

JJK: OK, das klingt vernünftig. Zunächst muss der Staat wohl sich selbst, seine eigenen Organe finanzieren, nämlich die drei von der Verfassung vorgesehenen Bereiche der demokratischen Gewaltenteilung: die Gesetzgebung  oder Legislative, die Regierung oder Exekutive und die Rechtsprechung oder Judikative. Die Steuern finanzieren also die Parlamente, damit sie Gesetze formulieren können; dann die Verwaltungen und Ordnungskräfte, von der Polizei bis hin zur Bundeswehr, damit die Gesetze und internationalen Verträge durchgesetzt werden; und die Justiz, damit Konflikte auf Basis der Gesetze gelöst und entschieden werden können.

RD: Hier würde ich sagen, dass Polizei und Bundeswehr das „Gewaltmonopol des Staates“ vertreten und der Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger dienen. Das geht über den Selbsterhalt des Staates und seiner Organe hinaus.

JJK: In der Tat: Die Sicherheit vor willkürlichen Gewaltakten ist einerseits ein Grundrecht, das der Staat mit seinen Ordnungskräften zu garantieren versucht, und zugleich eine Voraussetzung für viele wirtschaftliche Tätigkeiten. So sind diese Staatsorgane und ihre Finanzierung auch in Europa historisch entstanden. – Das nächste große Feld staatlicher Aufgaben ist die soziale Absicherung der Bürgerinnen und Bürger. Der Staat sorgt dafür, dass Menschen, die in Not geraten oder keine privaten Einkommen mehr erzielen können, geholfen wird. Dazu dienen in Deutschland vor allem die Sozialabgaben, weniger die Steuern. Darauf müssen wir später bei der Diskussion über die Quellen der Steuern achten. – Das dritte große Feld ist die öffentliche Infrastruktur. Dazu gehören die schon erwähnten Schulen, also das Bildungswesen, das Gesundheitswesen, die Wissenschaft, das Kulturleben, die Straßen und Bahnen, die Versorgung, der Umwelt-, Klima- und Naturschutz.  

RD: Ist es wirklich sinnvoll, Bildungswesen, Gesundheitswesen, Wissenschaft und Forschung, Kulturleben und Umweltschutz unter „Infrastruktur“ zu subsummieren? Bilden sie nicht einen eigenen Bereich – so etwas wie „Geistesleben“ oder „Zivilgesellschaft“–, der sich von der eher technischen „Infrastruktur“ unterscheidet, also den praktisch-physischen Dingen für die Funktion von Wirtschaft und Kommunikation?

JJK: Ja, das kann man an der Stelle so differenzieren. Wir haben dann einen staatlichen Bereich Infrastruktur und einen staatlichen Bereich Bildung–Wissenschaft–Kultur. Zu ersterem gehört die staatliche Oberaufsicht über Strom-, Gas- und Fernwärmenetze, Eisenbahnen, Straßen, die Telekommunikation, das Internet und ähnliches. Zu letzterem gehören auch Klima-, Umwelt- und Naturschutz.

RD: Den Bereich Bildung–Wissenschaft–Kultur möchte ich hier noch etwas genauer betrachten; er umfasst nämlich: Bildung (Schulen, Unis usw.), Grundlagen- und angewandte Forschung, Gesundheitswesen inklusive Medizin, Kultur und Kunst, Geisteswissenschaft und Spiritualität (Religion, Kirchen), Umwelt-, Klima- und Naturschutz. Aus diesem Kulturbereich geht ein Großteil aller Innovation für die gesamte Gesellschaft hervor.

JJK: Religion und Kirchen sind verfassungsrechtlich klar vom Staat getrennt zu sehen. Da liegen keine staatlichen Aufgaben außer der Gewährleistung der Glaubensfreiheit.

RD: Das Ganze ist schon mal ein ziemlich guter Katalog, aber richtig, man kann im Einzelnen darüber streiten, ob das alles wirklich staatliche Aufgaben sind, oder ob die Aufgaben auch anders erledigt werden könnten. Wenn der Staat zum Beispiel das Kulturleben oder die Wissenschaft aus Steuermitteln finanziert: Wirft das nicht das Problem auf, dass dann der Staat, also der Gesetzgeber, der Bundestag, die Landtage, und im Einzelfall irgendeine Behörde über die Verwendung dieser Mittel mitentscheiden will? Wie verträgt sich das mit der Freiheit der Kultur, der Freiheit der Wissenschaft? Wollen Sie wirklich, dass ein Bundeskanzler Merz Ihnen sagen kann, woran Sie als Historiker zu forschen haben?

JJK: Das ist ein heikler Punkt. Er wird aber nicht dadurch gelöst, dass ich Drittmittel einsetze, zum Beispiel von der VW-Stiftung. Ich möchte nämlich auch nicht, dass ein VW-Vorstandsvorsitzender Oliver Blume mir sagen kann, woran ich forschen soll. Beide Bereiche, Infrastruktur und Bildung–Wissenschaft-Kultur, sind nicht klar abgegrenzt zwischen staatlicher und privater oder vereinsrechtlicher Ebene, es gibt da viele Mischformen. Wichtig ist hier für uns die Finanzierung, weil die überwiegend aus Steuermitteln erfolgt. Dabei muss das Verhältnis zwischen Geldgeberin und freier Künstlerin oder freiem Wissenschaftler oft ausdiskutiert und geregelt werden.

RD: Meines Erachtens ist das ein ganz wichtiger Punkt, denn gewöhnlich sind die Bereiche Bildung, Forschung, Kultur und Geisteswissenschaft notorisch unterfinanziert – schon in der Schule wird der Rotstift immer zuerst bei Kunst-, Musik- und Sport-Unterricht angesetzt. Daher stellt sich hier grundsätzlich die Frage, ob der Staat den Kulturbereich zu finanzieren hat, oder ob dies eher auf anderen Wegen finanziert werden sollte. Wenn in diesem Bereich das Prinzip Freiheit Priorität hat; also weder der Staat noch andere Institutionen inhaltliche Vorschriften machen sollen, lässt sich überlegen, den Kulturbereich möglichst direkt aus Gewinnen und Überschüssen der Wirtschaft zu finanzieren. Der Staat hätte dafür nur einen neuen gesetzlichen Rahmen zu schaffen, der einerseits die Finanzierung garantiert, andererseits aber jedwede inhaltlichen Vorgaben aus der Wirtschaft und aus den Staatsorganen prinzipiell ausschließt. Dafür gibt es bereits das Modell des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.

JJK: Darüber kann man nachdenken, in der Tat.

RD: Ganz allgemein könnte es nützlich sein, zumindest grob zu wissen, zu welchen Anteilen die Steuereinnahmen in welches Feld fließen. Auch komme ich auf die Frage zurück, wo die Steuern hergenommen werden; wie gerecht zum Beispiel die Steuerbelastung auf die Bürger verteilt ist. Wer sich durch seine persönliche Steuerbelastung ungerecht behandelt fühlt, wird Steuern anders beurteilen als jemand, der seine Belastung als gerecht empfindet. Oder die Frage, ob Steuern vielleicht bestimmte wirtschaftliche Tätigkeiten bestrafen und andere belohnen. Oder die Frage, wie sich die Staatsausgaben und damit die Steuerbelastung der Bürgerinnen in den letzten Jahren entwickelt hat. Deshalb schlage ich vor, dass wir eine Recherchepause einlegen und später auf der Grundlage von einigen Zahlen weiterdiskutieren.

JJK: Einverstanden; ich ziehe mich zur Recherche zurück.

JJK (zwei Teekannen später): Ich habe genauer untersucht, wie auf der einen Seite die Staatsausgaben und auf der anderen Seite die Steuerbelastung auf verschiedene Gruppen in der Gesellschaft aufgeteilt sind. Ersteres geht nur grob, da die Staatshaushalte sehr differenziert sind; letzteres geht im Rahmen dieser Betrachtung nur stichprobenhaft. Die dritte Frage nach der Entwicklung der Staatsausgaben ist am schnellsten zu beantworten:

  • Von 1991 bis 2023 sind die deutschen Staatsausgaben inklusive Sozialkassen von 737 auf 1989 Mrd € angestiegen – in Bruttozahlen, also ohne Inflationsausgleich gerechnet.[1] Von 1991 bis 2012 (1233 Mrd €) betrug der Anstieg im Schnitt 23,6 Mrd € pro Jahr (= 3,2 % bezogen aufs Basisjahr), von 2013 (1264 Mrd €) bis 2023 stiegen sie im Schnitt um 72,5 Mrd € pro Jahr (= 5,7 % bezogen aufs Basisjahr). Sie wachsen also in den letzten Jahren deutlich schneller.
  • In Deutschland zahlten Mittelstandsfamilien im Jahr 2020 durchschnittlich 43 % ihres Einkommens an Steuern und Abgaben, während typische Milliardäre, geschätzt, nur 26 % ihres Einkommens zahlten.[2]
  • 2010 entfiel im Durchschnitt der OECD-Länder ein Drittel der Einnahmen aus Steuern und Abgaben (einschließlich Sozialversicherungsbeiträge) auf Einkommen- und Gewinnsteuern, ein weiteres Drittel auf Steuern auf Waren und Dienstleistungen (vor allem Umsatz- und Mehrwertsteuern), über ein Viertel auf Sozialversicherungsbeiträge (in Deutschland rund 40 %), der Rest auf Grundsteuern u.ä.[3] 2011 beliefen sich die gesamtstaatlichen Ausgaben im OECD-Durchschnitt auf 45,4 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Am höchsten waren sie mit 57,6 % des BIP in Dänemark, am niedrigsten mit 22,8 % des BIP in Mexiko.[4]
  • Der Öffentliche Gesamthaushalt in Deutschland betrug 2023: 1952 Mrd €. Davon entfielen 41,9 % auf die Sozialkassen, 31,5 % auf den Bundeshaushalt, 27,1 % auf die Bundesländer, 18,7 % auf die Städte und Gemeinden und 1,7 % auf die EU.[5] In 2019 wurden 57 % des öffentlichen Gesamthaushalts für die soziale Sicherung, Familie, Jugend und Arbeitsmarkt ausgegeben; 14 % für Allgemeine Dienste (inkl. Verteidigung, Polizei, Justiz); 10,4 % für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Kultur; 5,3 % für Versorgung (d. h. Pensionen); 4,8 % für Energie- und Wasserwirtschaft, Gewerbe, Dienstleistungen, Verkehr und Nachrichtenwesen; 4,6 % für Finanzwirtschaft (d.h. Zinsen und Tilgungen von Krediten); 3,9 % für Gesundheit, Umwelt, Wohnungswesen, Städtebau und Landwirtschaft.[6]

Aus dieser Vielfalt an Fakten lassen sich mehrere, jeweils zugespitzte Begriffe vom Wesen der Steuern ableiten. Ich könnte zum Beispiel schlussfolgern: Steuern und Sozialabgaben sind ein gesetzlich erzwungenes Opfer, das vor allem der Mittelstand entrichtet, um die Ärmeren ruhig zu stellen und etwaige soziale Unruhen zu vermeiden. Wobei die Reichen durch ihre Machtposition durchsetzen können, dass sie selbst von dem Opfer weitgehend befreit bleiben.

Oder folgendes: Steuern sind der gesetzlich festgelegte Preis, den der Mittelstand für die Aufrechterhaltung der staatlichen Ordnung entrichtet. Die Ärmeren nutzen diese Ordnung, um ihren Lebensunterhalt abzusichern, die Konzerne nutzen sie, um ihre auf den Massenabsatz von Konsumartikeln basierenden Unternehmensgewinne und die erforderliche Logistik abzusichern.

Oder folgendes, näher an Lindners und Merzens Wahlkampftönen: Steuern sind ein ideologisch begründeter Diebstahl, den eine Kaste privilegierter Bonzen am Eigentum der wirtschaftlich Aktivsten vornimmt, um ihre eigene parasitäre Existenz abzusichern. Sie tarnt den Diebstahl mit der Maske eines demokratisch beschlossenen Gesetzes.

RD: Ach du liebe Zeit! Das ist nun wirklich gespickt mit  Kampfbegriffen. Alle drei Angebote wirken polemisch und sind ideologisch gefärbt – sind also meines Erachtens emotional geprägte autorelationale oder relative Begriffe. Hat uns die Recherche eher zurückgeworfen als vorangebracht?

JJK: Ich habe die Schlussfolgerungen tatsächlich zu polemischen Meinungen zugespitzt. Allerdings denke ich nicht, dass diese Begriffe autorelational sind, da sie sich tatsächlich auf recherchierte objektive Zahlen stützen können.

RD: Na, na – der letzte davon auch? Worauf stützen Sie die „Kaste privilegierter Bonzen“?

JJK: Auf das rasante Wachstum der Staatsausgaben und darauf, dass fast 16 % davon in den Staatsapparat selber fließen, darunter 5,3 % in die Beamtenpensionen – mehr als doppelt so viel wie für Verkehr und Nachrichtenwesen; das ist viel Holz. Aber hauptsächlich wollte ich mit den drei Polemiken aufzeigen, dass man mit „objektiven Zahlen“ fast jede Position im Meinungsstreit stützen kann.

RD: Wenn man sich einzelne herauspickt und andere ignoriert, in der Tat. Auf dem Weg zum wirklichkeitsgemäßen Begriff werden wir alle diese Zahlen mitnehmen müssen. Sie zeigen auf, wie tief verwoben das Wesen der Steuern mit anderen, erst recht komplexen Phänomenen zu sein scheint: dem Gesetz, dem Staat, der Wirtschaft, der Armut, der gesellschaftlichen Mitte, dem Reichtum, dem Konsum. In diesem Geflecht das Wesen der Steuern zu bestimmen, erscheint fast aussichtslos, weil wir zugleich auch das Wesen des Gesetzes, des Staates, der Wirtschaft usw. bestimmen müssten.

JJK: Da das vorläufig nicht möglich erscheint, schlage ich als hoffentlich weniger kontroversen Begriff vom Wesen der Steuern vor: Steuern sind Geldsummen, die die Bürger von Gesetz wegen an den Staat abgeben müssen. Sie werden auf der Grundlage des Wirtschaftens der Bürger:innen berechnet und dienen dazu, Aufgaben zu finanzieren, die die Verfassung und der Gesetzgeber als gemeinnützig und notwendig definiert haben und die nach ihrer Auffassung auf andere Weise nicht finanziert werden können. In einer Demokratie ist das gewählte Parlament jener Gesetzgeber.

RD: Das ist jetzt tatsächlich ein individueller Begriff – nämlich gestützt auf zutreffende und nachweisbare Fakten, und wir haben es geschafft, über das Niveau der relativen Begriffe hinauszukommen. Dieser individuelle Begriff betont bzw. verschiebt die Einschätzung der Steuern praktisch auf die Ebene der Einschätzung ihres Zustandekommens, ihrer Legitimation: Steuern werden mit einem demokratischen Gesetzgebungsprozess legitimiert.

JJK: Die fundamentalen Kritiken, die sich in den drei polemisch-relativen Begriffen äußerten, wären mithin entweder in jenen Prozess einzubringen, oder sie träfen auch den demokratischen Prozess selbst und wären auf dieser Ebene zu diskutieren.

RD: OK. Wo sind die Sozialabgaben geblieben, von denen Sie vorhin sprachen?

JJK: Die sind zweckgebunden: Krankenkassenbeiträge dürfen nur zur Finanzierung des Gesundheitswesens dienen, Rentenbeiträge nur zur Finanzierung der Renten. Zum Wesen der Steuern im engeren Sinne gehört, dass sie nicht zweckgebunden sind. Sie fließen in die allgmeinen Haushalte ein und stehen den Parlamenten zur freien Verfügung.

RD: Das müsste in einen wirklichkeitsgemäßen Begriff noch aufgenommen werden. Ihre Formulierung „Aufgaben zu finanzieren“ ist überhaupt noch sehr unspezifisch – so dass damit das Wesen von Steuern, denke ich, noch nicht wirklich erfasst ist. An der Stelle ist der Begriff noch schwach. Auch die Formulierung „werden auf der Grundlage des Wirtschaftens berechnet“ bleibt vage und lässt offen, wie sinnvoll es ist, die Steuern stets da zu holen, wo Bürger Geld verdienen. Denn das kann bewirken, dass produktive Tätigkeit durch die Steuerbelastung bestraft wird. Muss das wirklich so sein?

JJK: Zunächst will ich eines meiner Rechercheergebnisse heranziehen, um Ihre Furcht vor der schädlichen Bestrafung produktiver Tätigkeiten etwas zu dämpfen. Dänemark hatte 2011 im OECD-Vergleich den höchsten Anteil von Staatsausgaben am Bruttoinlandsprodukt (58 %), Mexiko hatte den niedrigsten (23 %). Doch ich habe nicht den Eindruck, dass die Wirtschaft in Mexiko der in Dänemark überlegen ist.

Andererseits gibt es alternative Steuermodelle wie zum Beispiel die Finanztransaktionssteuer, die pauschal auf alle Finanztransaktionen erhoben würde; sie würde den aufgeblähten Finanzsektor stärker zur Finanzierung heranziehen. Schließlich ist es auffällig, dass Sozialabgaben, also die Finanzierung der sozialen Sicherheit und des sozialen Friedens, einseitig auf den Einkommen der Arbeiterinnen, Angestellten und des so genannten Mittelstands lastet.

RD: Ja, Ihre Überlegungen sind sehr zielführend. Lassen Sie uns hier – vielleicht mal wie ganz am Anfang unseres Dialogs – genauer schauen, wo Steuererhebung unter Sinn- und Gerechtigkeitsaspekten stattzufinden hätte! Einerseits sollten Steuern vor allem auf Lebensschädliches erhoben werden, wie zum Beispiel den Verbrauch nicht-nachhaltiger Energie und Ressourcen, Umweltverschmutzung und Luxuswaren; auf klimaschädliche Aktivitäten wie Flugreisen…

JJK: Und überschwere Autos! Die CO2-Steuer sollte das ursprünglich genau leisten.

RD: Dann auf umwelt- und gesundheits­schädliche Genussmittel wie Alkohol und Nikotin – und auf jeden Fall auf laute Benzinrasenmäher…

JJK: Das könnte ein Fall sein, an dem eher ein schlichtes Verbot angezeigt ist. Zumindest bei den besonders lauten, besonders dreckigen Zweitaktmotoren, die völlig überflüssig sind.

RD: Andererseits erscheint es wohl auch gerecht, Steuern und Sozialabgaben dort einzutreiben, wo tatsächlich das ganz große Geld gemacht wird, nämlich bei Einkommen aus Kapitalvermögen, bei hohen Unternehmensgewinnen, bei Spekulationen aller Art an den „Finanzmärkten“, bei hohen Einkommen aus Haus- und Grundbesitz, Erbschaften usw. So könnte ein abgehobener „Finanz­kapitalismus“ eingedämmt und das Entstehen von oligarchischen Machtkartellen verhindert werden.  Vielleicht ganz steuer- und abgabenfrei sollten vor allem menschliche Arbeit und alle unsere Grundbedürfnisse sein.

JJK: Ich bin etwas skeptisch, ob es möglich sein wird, über die Frage, was lebensschädlich ist und was nicht, was Grundbedürfnisse sind und was Luxusgüter, ein gesellschaftliches Einvernehmen zu erzielen. Ist die Currywurst, ist das Lastenfahrrad ein Grundbedürfnis oder ein Luxusgut? Davon abgesehen scheint mir, wir kommen wirklich weiter: in Richtung eines wirklichkeitsgemäßen Begriffs von Steuern. Also versuche ich nun, den Steuerbegriff abschließend wie folgt zu präzisieren:

Steuern und Sozialabgaben sind Geldsummen, die die Bürgerinnen und Bürger von Gesetz wegen an den Staat abgeben müssen. Sie werden auf gesetzlicher Grundlage für bestimmte Formen des Wirtschaftens berechnet (Steuer-Herkunft). Sie dienen dazu, Aufgaben zu finanzieren, die die Verfassung und der Gesetzgeber als gemeinnützige und notwendige Kernaufgaben des demokratischen Staates definiert haben (Steuer-Ziel) und die nach ihrer Auffassung auf andere Weise nicht finanziert werden können. In einer Demokratie ist das gewählte Parlament jener Gesetzgeber. 

RD: Drei Präzisierungen möchte ich im Rückblick auf unseren Dialog ergänzen:
Die Steuer-Herkunft haben wir zuvor unter sinnvollen und gerechten Aspekten genauer skizziert.
Mit der Thematik Steuererhebung scheint der Aspekt Steuergerechtigkeit wesentlich verbunden.
Das Steuer-Ziel, nämlich die Kernaufgaben des demokratischen Staates, konnten wir bereits im ersten Drittel des Gesprächs erschöpfend klären.


[1]    de.statista.com: Ausgaben des deutschen Staates von 1991 bis 2023. Die Steigerungsraten nach eigener Berechnung.

[2]    Netzwerk Steuergerechtigkeit, 2024. Superreiche (wieder) gerecht besteuern

[3]    OECD: Regierung und Verwaltung auf einen Blick 2013, S. 78

[4]    Ebd. S. 82

[5]    destatis.de: Ausgaben und Einnahmen des Öffentlichen Gesamthaushalts 2023

[6]    destatis.de: Ausgaben des Öffentlichen Gesamthaushalts nach Aufgabenbereichen 2019; teilweise aufaddiert

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert