Zum Verhältnis von Wirklichkeit und Wahrheit
Dieser Abschnitt ist eine erste und vorab sinnvolle und notwendige Betrachtung der Begriffe Wirklichkeit und Wahrheit, vor allem, um Unklarheiten zu vermeiden, insbesondere auch bei philosophisch vorgebildeten Leserinnen und Lesern.
(Auszug aus Kap. 1.3. der Einleitung des Buches)
In der Erkenntnisphilosophie geht es um ein genaues Bewusstsein davon, wie der Prozess der geistigen Fähigkeit des Menschen, zu Erkenntnissen gelangen zu können, überhaupt abläuft, und des weiteren auch darum, wie diese Erkenntnisfähigkeit zu ihrem Ziel gelangen kann, nämlich zu wahren Ergebnissen bzw. zu wahrer Erkenntnis, d.h. zur Wahrheit von den Dingen und Zusammenhängen der Welt, oder auch zur Erkenntnis der Wirklichkeit – wie immer man es zunächst formulieren mag.
Allerdings ist diese Thematik keine einfache Angelegenheit, vielmehr eine große Problematik. Denn die Worte Wahrheit und Wirklichkeit sind weder unmittelbar eindeutig verständlich, noch sind sie von der Anschauung her, d.h. phänomenologisch, in einfacher Weise unmittelbar zugänglich; vielmehr handelt es sich um Metabegriffe. Im Sinne der phänomenologischen Grundhaltung dieser Arbeit verbietet sich allerdings der Versuch einer kurzen und prägnanten “Definition“ dieser Begriffe. Vielmehr müssen auch diese auf einer phänomenologischen Basis bzw. Herleitung beruhen.
Zur Wirklichkeit kann man einen Zugang insbesondere über den Begriff Sein suchen: Die Wirklichkeit ist die Welt so, wie sie IST; dies ist das Sein. Wir erfahren es in Raum und Zeit im Sinne bzw. in der Gestalt des Seienden; wenn das abstrakt klingt: Konkret sind damit die seienden, d.h. existierenden Dinge, Phänomene und Geschehnisse in der Welt gemeint. Die Verlaufsform des Wortes zeigt: das Seiende ist ein Prozess in der Zeit. (*)
Das Sein bzw. das Seiende ist also nicht statisch, sondern als dynamisch anzusehen, denn es befindet sich ja in einer Evolution; diese Welt ist eine werdende, die sich ständig verändert. Daher also:
Die Wirklichkeit ist die Welt so, wie sie in jedem Moment IST, nämlich das Seiende in Raum und Zeit im Sinne des Werdenden. (**)
Diese unmittelbar einsichtigen Feststellungen schließen aber nicht aus, dass es in dieser Welt auch Dinge, Kräfte oder Prinzipien mit einem zeitlos unveränderlichen Sein geben kann, wie z.B. Naturgesetze, geistige bzw. logische Gesetzmäßigkeiten, “Kategorien“ z.B. im Sinne von Aristoteles oder Kant, “Ideen“ im Sinne des Philosophen Platon, o.ä.
Die Wirklichkeit ist die Welt so, wie sie in jedem Moment im Werden IST. Dieses werdende Sein, dieses Seiende in Entwicklung, ist anscheinend ganz unabhängig davon, ob es in ihm erkenntnisfähige Subjekte wie uns Menschen gibt oder nicht. Denn Milliarden Jahre kam die Welt und unsere Erde ohne uns aus – und niemand hat uns vermisst. Milliarden Jahre gibt es bereits Sonnen, Raum, Staub, Planeten, Steine, dann auch Pflanzen und Tiere; es läuft eine Entwicklung ab, die wir „Evolution“ nennen, nach physikalischen, mathematischen, evolutionären, biologischen und wahrscheinlich auch nach logisch-geistigen Gesetzmäßigkeiten. Daraus können und müssen wir Menschen schließen, dass es diese Welt und diese Entwicklung unabhängig von unserem eigenen Sein gab und gibt, und dass sie also nicht nur eine Erzeugung oder Illusion unseres eigenen Bewusstseins ist.(***) Denn allerdings gibt es eine unbezweifelbare Erfahrung, die auch unmittelbar zu sehen und zu verstehen ist:
Wann immer ein Mensch oder irgendein anderes Lebewesen mit seinem mehr oder weniger komplexen Bewusstsein stirbt, existiert der Rest der Welt weiter.
Lebewesen haben also offensichtlich in dieser Welt ein Bewusstsein bzw. eine Ansicht von dieser Welt. – Genau das ist die erstaunliche Leistung von Bewusstsein.
Das jeweilige Bewusstsein der Lebewesen gibt ihnen ihr jeweils individuelles Erleben, ihre jeweils spezifische Erfahrung von der Welt und auch ihr jeweiliges „Sinnfeld“ (Markus Gabriel) in der Welt. Diese Art jeweiliger Weltsicht ist einerseits strukturell bestimmt durch die individuellen Wahrnehmungsorgane und das Potential der Auffassungsgabe bzw. der Hirnstrukturen des Lebewesens; andererseits ist sie inhaltlich insbesondere bestimmt von den Lebensbedürfnissen, Interessen und auch der Biografie des Lebewesens.
Exkurs:
Von diesen allgemeinverständlichen Gegebenheiten aus kann nun eine Aussage bzw. Behauptung, die man sowohl in philosophischen als auch esoterischen Kreisen immer wieder hört, betrachtet werden, nämlich: Die Welt sei „immer nur eine Projektion unseres eigenen Bewusstseins“. Diese Aussage ist dann problematisch, wenn sie so gemeint ist oder wenn man sie so versteht, als seien wir selbst bzw. unser Bewusstsein der Schöpfer oder der Erzeuger der Welt. Vielmehr sind wir Menschen, so wie alles andere auch, ja selbst Geschöpf bzw. ein Phänomen und Lebewesen unter anderen in der Welt. Wir finden uns vor in der Welt, in der wir anscheinend ungefragt geboren werden, und zwar wundersamerweise mit einer besonderen Ausstattung – so können wir Menschen das mit Staunen über uns selbst erleben: Wir finden uns bewusster als die Tiere in der Welt vor, sobald wir mittels unseres Potentials Ich-Bewusstsein zum Bewusstsein unserer selbst in der Welt erwachen; und wir können mit unserem menschlichen Bewusstsein sehen, erleben und erkennen: Diese Welt IST, und ich bin Teil davon.
Von daher kann nun die zuvor angeführte problematische Aussage präzisiert werden: Die Aussage „Die Welt ist nur eine Projektion unseres Bewusstseins“ ist falsch; genauer und sachlich korrekt gilt: Die unmittelbare Ansicht (vgl. Kasten zuvor) und das Erleben und die Erfahrung der Welt ist immer eine Projektion des jeweiligen Bewusstseins der Lebewesen, und diese ist insbesondere abhängig von deren Wahrnehmungsorganen, Hirnstrukturen und Interessen.
Das ist allerdings immer so; doch gerade für uns Menschen mit unserem hohen Potential zur Erkenntnisgewinnung ist dies nicht zwangsläufig die Endstation der Fähigkeiten unseres Bewusstseins. Das soll und wird in diesem Buch gezeigt werden.
Fortführung des Gedankengangs zuvor:
Die Wirklichkeit – d.h. die Welt so, wie sie im Werden ist, die Evolution bzw. das werdende Sein, das ich vorfinde und in dem ich mich auch selbst befinde und vorfinde – diese Wirklichkeit war und ist zu jedem Zeitpunkt genau so, wie sie WAR und wie sie IST, mit allen ihren Einzelheiten, individuellen Lebensformen usw., die zu jedem Zeitpunkt so sind wie sie SIND – und zwar auch ganz unabhängig davon, ob sich nun Menschen auf dieser Erde mit ihrem Bewusstsein Gedanken darüber machen oder nicht.
Die spannende Frage und das Kernthema der Erkenntnisphilosophie ist nun, ob und wie wir Menschen mit unserem Potential Erkenntnisfähigkeit herausfinden können, wie die Welt bzw. das Sein in Wirklichkeit ist.
Wir Menschen mit unserer Neugier und unserem Forschungsdrang versuchen ständig – u.a. mittels der Wissenschaft, immer mehr und Genaueres über diese Wirklichkeit herauszufinden. Auf Basis unserer Wahrnehmungsfähigkeit machen wir Erfahrungen; und wenn wir durch unser Denken etwas Neues herausfinden, mit dem wir dann auch praktisch umgehen können und das, wenn es sich bewährt, also auch zu stimmen scheint, so sagen wir, wir haben eine neue Erkenntnis gewonnen.
Solche „Erkenntnisse“ müssen wir aber zunächst immer als relativ, d.h. als vorläufig und unsicher ansehen. Denn aus Erfahrung wissen wir, dass sie immer nur mehr oder weniger der Wirklichkeit entsprechen, z.B. wenn sie dann doch erst noch vervollständigt, präzisiert oder sogar korrigiert werden müssen. Und wir wissen, dass man sich auch völlig irren kann.
Wenn wir allerdings – angenommen – etwas wirklichkeits(!)-gemäß(!) herausfinden könnten, so können wir dann einer solchen Erkenntnis das Attribut „wahr“ geben; oder kurz gesagt: Eine solche Erkenntnis können wir eine Wahrheit nennen. Daraus ergibt sich der einfache logische Zusammenhang:
Wahrheit ist wirklichkeitsgemäße Erkenntnis.
Dasselbe etwas genauer formuliert:
Wahrheit ist die Übereinstimmung der menschlichen (subjektiven) Erkenntnis mit der (objektiven) Wirklichkeit.
Diese Aussage in dieser Formulierung kann eine allgemeine Geltung beanspruchen, und zwar für den Alltag (Wo habe ich mein Schlüsselbund liegen lassen?), für den Kommissar bei der Verbrechensaufklärung (Wie ist das Opfer wirklich umgekommen?) wie auch für wissenschaftliche Fragestellungen.
Im Folgenden ein erster wichtiger Bezug zur Geschichte der Philosophie: Menschen mit philosophischen Kenntnissen kann auffallen, dass die Formulierung „Wahrheit ist die Übereinstimmung …“ eine gewisse Ähnlichkeit mit der sogenannten Korrespondenz- bzw. Adäquations-Theorie hat, die schon seit Aristoteles die Philosophie zum Thema Wahrheit und Erkenntnis prägt. In Anlehnung an ihn hat dann Thomas von Aquin zu seiner Zeit das Thema Erkenntnis und Wahrheit in eine berühmt gewordene Formel gefasst: „veritas est adaequatio intellectus et rei“ (De veritate 1, 1c); dies aus dem Lateinischen übersetzt, in einer möglichst allgemeinen Formulierung: Wahrheit ist die Angleichung (adaequatio) von menschlichem Verständnis (intellectus) und der Sache oder dem Sachverhalt (res).
Es geht dabei also erkennbar um die gleiche Thematik, die zuvor ausgeführt wurde. Allerdings hat die Auseinandersetzung mit dieser These im Laufe der Geschichte der Philosophie immer wieder gezeigt, dass es nicht so einfach ist, diese einprägsame plakative und zunächst irgendwie auch unmittelbar einleuchtende Formulierung wirklich zu verstehen und anzuwenden. Denn bei genauerem Hinsehen zeigen sich z.B. folgende Probleme:
- Was heißt Verständnis der Sache, und wie komme ich dazu? Was für eine Instanz oder Fähigkeit ist intellectus im Menschen eigentlich genau? Auf welche Weise zeitigt er konkrete und wahre Ergebnisse, und woran kann ich das ersehen? Die Spannweite der Bedeutungen von intellectus reicht von Wahrnehmen und Vorstellung über Denken, Geist, Verstand und Vernunft bis hin zu Erkenntnis, Einsicht und Idee. D.h., sobald man etwas genauer hinschaut und nachfragt, ist man direkt mit der Frage konfrontiert, wie die Erkenntnisgewinnung im Menschen genau geschieht.
- Es ist in dieser Formel noch ganz offen, wie eine Angleichung (adaequatio) zwischen zwei so völlig verschiedenen Qualitäten wie geistiges Verständnis (intellectus) und einer Sache in der Welt (res) denn überhaupt stattfinden kann.
- Und was ist bei der Anwendung auf den Einzelfall jeweils res (also die Sache oder der Sachverhalt) genau!?
Bei einfachen Aussagen zu Sachverhalten (z.B. „Das Bild hängt schief“) scheint diese Frage zwar einfach zu klären zu sein, jedoch bei genauerem Hinsehen nur unter zwei Bedingungen: Erstens, wenn die Begriffe bzw. Worte, d.h. die Sprachverständlichkeit eindeutig (vereinbart) sind, was aber nur bei eindeutigen unstrittigen Sachzusammenhängen innerhalb eines Sprachraumes zutrifft; und zweitens, wenn man den entsprechenden Sachverhalt phänomenologisch, also mit den Sinnen, verifizieren kann, d.h. in diesem Beispiel das schief hängende Bild persönlich vor Ort per Augenschein als gegeben erkennen kann. – Aber jenseits von einfachen allgemeinverständlichen und physisch nachprüfbaren „Sachverhalten“, „Tatsachen“ oder „Fakten“ beginnen sofort die Schwierigkeiten von Verständnis, Verständigung, Interpretationen und „Definitionen“, was denn nun eigentlich die Sache sei. Es werden also sofort die Probleme sichtbar, mit denen sich dieses Buch beschäftigt und weswegen es verfasst ist.
So ergibt sich an dieser Stelle nun: Es geht um eine „Angleichung“ oder „Korrespondenz“, ja – und potentiell bis hin zu einer Übereinstimmung. Und die Auseinandersetzung mit der Formel von Thomas von Aquin wird im Laufe des Buches fortgesetzt und vertieft werden.
Allerdings soll als Basis für dieses Buch ausdrücklich die Korrespondenz genau in der zuvor ausführlich hergeleiteten Formulierung gelten:
Wahrheit ist wirklichkeitsgemäße Erkenntnis, d.h.: Wahrheit ist die Korrespondenz bzw. Übereinstimmung der menschlichen (subjektiven) Erkenntnis mit der (objektiven) Wirklichkeit.
Wie nun allerdings diese Übereinstimmung unserer menschlichen Erkenntnis mit der Wirklichkeit zu finden und festzustellen ist, das bleibt bei dieser Formulierung noch völlig offen: Es ist an dieser Stelle noch gar nicht geklärt oder bestimmt, ob Wahrheit im Sinne einer wirklichkeitsgemäßen Qualität unserer Erkenntnis überhaupt möglich ist und wie sie sich konkret manifestieren kann. Dieses Ziel kann man an dieser Stelle aber z.B. auch als Frage wie folgt formulieren:
Wie kann oder muss ich mich auf die Welt einstellen bzw. mich der Welt zuwenden, damit die immer existierende Wirklichkeit auch für mich bewusst wirklich wird?
Dies aufzuzeigen unternimmt die erkenntnisphilosophische Darstellung dieses Buches.
Kurz eine Anmerkung zum Phänomen Bewusstsein: Da der Ort von Erkenntnis auf irgendeine Weise in dem ist, was wir unser Bewusstsein nennen, so könnte man z.B. auch sagen: Wahrheit ist wirklichkeitsgemäßes Bewusstsein; oder auch: Im Menschen kann die Wirklichkeit bzw. das Sein zu Bewusst-Sein werden. Dies wäre letztlich aber doch wenig hilfreich, denn es wäre eine eher allgemeine und unspezifische Formulierung. Bewusstsein ist nämlich ein zunächst sehr allgemeiner Oberbegriff; denn es gibt ja sehr verschiedene Bewusstseinsformen und -qualitäten, z.B. denkendes, wahrnehmendes, fühlendes, tierhaft-instinktives, träumendes, schlafendes, drogen-induziertes, durch (psychische) Krankheiten getrübtes, vielleicht auch hellsichtiges bzw. erleuchtetes, usw.
Fazit
Der Begriff Wahrheit ist dem zugehörig, was der Mensch wirklichkeitsgemäß erkennen kann. Denn die Wirklichkeit war und ist schon immer so, wie sie ganz unabhängig vom Menschen zu jedem Zeitpunkt im Laufe der Milliarden Jahre war und ist; aber erst der Mensch steht vor der Frage der Wahrheit und bemüht sich darum, auf Basis seiner Fähigkeiten Wahrnehmung und Denken.
So kann klar werden:
Wahrheit – als die vielleicht höchste Qualität von menschlichem Bewusstsein – gibt es nicht irgendwo in der Welt, sondern sie ist etwas, das sich erst im Bewusstsein erkenntnisfähiger Subjekte manifestieren kann. Im Vergleich dazu: Wirklichkeit IST immer – auch wenn wir nur das Wenigste davon wissen. (****)
Der Ort möglicher Wahrheit ist im Menschen, allgemeiner gesagt: im erkenntnisfähigen Subjekt.
Die Wirklichkeit bzw. das Sein ist dagegen alles was IST, einschließlich des erkenntnisfähigen Subjekts. Wirklichkeit ist also gegenüber Wahrheit der umfassendere Begriff: Denn als erkenntnisfähige Subjekte befinden wir Menschen uns ja innerhalb der gesamten Wirklichkeit; wir sind Teil dieser Wirklichkeit bzw. dieses Seins. Und wie der Mensch selbst, so ist auch die Wahrheitsfrage, -suche und -findung im Menschen Teil der gesamten Wirklichkeit.
Epilog
Zur Thematik Wirklichkeit gibt es verschiedenste herausfordernde Fragestellungen; z.B. Interpretationen von Seiten der Quantentheorie: Vielleicht ist die Wirklichkeit einschließlich uns Menschen ein „vieldimensionales Quantenuniversum“ mit erstaunlichen Eigenschaften jenseits unserer alltäglichen Erfahrung und Rationalität? – Doch helfen solche abstrakten Vorstellungen bzw. Thesen wirklich weiter?
Oder von Seiten spiritueller Erfahrungen und Einsichten: Ist die Wirklichkeit vielleicht ein zeitloses Sein, in dem die Zeit nur eine Illusion unseres Denkens ist – also ein zeitloses Sein, in dem alle Vergangenheit, das Jetzt und alle Zukunft gleichzeitig existent sind, d.h. also eine Einheit in einem unendlichen Jetzt? Rational scheint das für unseren normalen Geist nicht fassbar, doch was ist wirklich? – immer allein das, was jetzt IST; denn was wir Vergangenheit nennen ist nicht (mehr) existent, und was wir Zukunft nennen auch nicht. (Vgl. Eckhart Tolle, Leben im Jetzt, 2014, S.33)
Oder zur Frage der Herkunft der Wirklichkeit; man kann z.B. fragen: Was war denn vor dem sogenannten „Urknall“? Wie ist das Ganze, in dem ich mich befinde, überhaupt entstanden? Müssen wir daher eine noch andere Art oder Qualität von Wirklichkeit ‚hinter‘ oder jenseits der uns erfahrbaren und erkennbaren Wirklichkeit annehmen? – Zwar kann man da einen „schöpferischen Gott“ mutmaßen und dazu spekulieren oder „Metaphysik“ betreiben; aber erfahrungsgemäß hilft das konkret und philosophisch in keiner Weise weiter.
Die wahre Natur der Wirklichkeit zu erfahren und zu erkennen, das kann als die schönste Frucht der Blüte unserer Erkenntnisfähigkeit angesehen werden. Und anscheinend haben wir das Potential und die Neigung dazu schon von Anfang an mit an Bord unseres Lebens, wenn wir als kleine Menschlein zur Welt kommen und die Augen aufschlagen. Doch offensichtlich können wir nicht mit den möglicherweise krönenden Resultaten unserer Erkenntnisfähigkeit beginnen. Vielmehr fängt unser Lernen und Erkennen immer im Kleinen an, nämlich an existenziell-grundlegenden und altersgerecht-einfachen Dingen der Wirklichkeit.
Ehe wir uns also mit hohem Anspruch an kompliziertere Fragestellungen unserer Existenz oder auch an ein Verständnis der letzten Hintergründe dieser Welt überhaupt heranwagen können, ist es sinnvoll und notwendig, im Kleinen und Überschaubaren zu beginnen, die Problematik von Erkenntnis und Wahrheit in den Griff zu bekommen: Es ist möglich, hier zuallererst eine prinzipielle Gewissheit zu erreichen (Teil I des Buches) und mit ihrer Hilfe dann das Potential unserer Erkenntnisfähigkeit bewusster und umfangreicher zu erschließen (Teil II).
Dafür ist dieses Buch geschrieben.
Anmerkungen:
(*) Eine Vertiefung dieser Begriffe hat in der moderneren Philosophie insbesondere Martin Heidegger in seinem Hauptwerk Sein und Zeit geleistet.
(**) Genauer betrachtet und formuliert ist dieses Werden immer untrennbar mit einem Ent-werden verbunden, d.h.: Entwicklung ist immer verbunden mit dem Vergehen eines anderen bzw. vorhergehenden Zustands. J.W.v. Goethe nannte dies einen „Stirb-und-Werde-Prozess“.
(***) Nur sozusagen kapriziöse philosophische Theorien wie z.B. bestimmte Strömungen des Idealismus, des Skeptizismus und in dogmatischer Weise der Solipsismus versuchen, das zu bezweifeln.
(****) Im Zuge der Arbeit an diesem Buch ergab sich eine schriftliche Diskussion mit einem professionellen Philosophen. Dieser sprach u.a. von „bislang unerkannten oder vielleicht ganz und gar unerkennbaren Wahrheiten“, z.B. ob es eine „Existenz nach dem Tod oder einen Gott gibt“. Auf diese Weise jedoch darf man, um philosophisch exakt zu sein, eigentlich nicht sprechen; vielmehr ist hier genau genommen von „bislang unerkannter oder vielleicht ganz und gar unerkennbarer“ Wirklichkeit zu sprechen. Denn immer schon in der auf Platon und Aristoteles fußenden abendländischen Philosophiegeschichte war und ist die Wirklichkeit das sozusagen ursprünglich-originäre Sein – und dies auch in beiden von der Geschichte her infrage kommenden klassischen Varianten von Wirklichkeit: nämlich wenn sie von Platon gemeint war im Sinne eines ideellen Seins (d.i. die Ideen-Welt als das Wirkende, sozusagen Urbild), und auch, wenn sie von Aristoteles eher verstanden wurde im Sinne des Real-Seienden (d.i. von Platon aus gesehen das Be-wirk-te, also Abbild) .
Ich halte es für ein sehr gelungenes und gut begründetes Werk zum Thema Erkenntnis – untermauert mit viel spiritueller Erfahrung. Mir gefällt, wie Sie sich mit traditionellen Erkenntnistheorien auseinandersetzen und diese zu neuen, phänomenologischen Ansätzen (Husserl, Schmitz) in Beziehung setzen. Ich habe teilweise Mühe mit dem Sprachstil, – das liegt aber auch daran, dass ich generell Probleme mit dem Stil westlicher Philosophie habe. Ich habe auch Probleme mit dem „absoluten“ Wahrheitsanspruch, wie er an manchen Stellen durchscheint – ich glaube es geht eigentlich um die buddhistische „Leere“ – oder irre ich mich? Ich glaube nicht, dass Begriffe wirklichkeitsgemäß für ALLE stehen können – dies hängt aber mit meiner eigenen Auffassung von Sprache zusammen, die weitgehend durch die kognitive Metapherntheorie geprägt ist. Hier habe ich mich gefragt, ob Sie vielleicht Metaphern meinen könnten – da bin ich mir nicht sicher. Insgesamt: Herzlichen Glückwunsch, Sie haben da mit großer Zähigkeit einen „großen Wurf“ in die Welt gebracht!
Sehr geehrter Herr Jäger, zum Sprachstil: Nun ja, philosophische Sprache ist erfahrungsgemäß niemals wirklich flüssig, und ich habe schon sehr viel Arbeit in den Sprachfluss gesteckt. Andererseits hört man immer wieder mal, Deutsch sei eine der besten Sprachen für exakte Philosophie! Das Anglo-Amerikanische hat noch nicht mal einen eigenen Begriff für Erkenntnis: cognition, understanding und realizing sind vieldeutige Worte; mit true-knowing könnte man es auch versuchen, naja …
Zur buddhistischen „Leere“: Nein, wohl eher nicht; denn die buddhistische “Leere“ oder „Leerheit“ bezieht sich meines Wissens nach ausschließlich auf einen Ausnahmezustand des Bewusstseins, nämlich den der sog. „Erleuchtung“.
Wirklichkeitsgemäß für ALLE: Dieses Bedenken erscheint mir nicht ganz logisch im Sinne meines Buches; evtl. ist da verständnismäßig etwas noch nicht ganz klar. Denn „Begriff“ ist hier immer ein „persönlicher Begriff“, nämlich unser persönliches Verständnis von der Sache oder Thematik, um die es geht, und zwar so gut bzw. soweit wie wir sie – eben – begriffen(!) haben (vgl. S. 18 + 46 im Buch). Schaut man den Prozess der Begriffsbildung an (dargestellt in Kap. 5), so kann die Begriffsqualität sich steigern von „auto-relationalen“ über „relative“ und „individuelle“ bis hin zu „wirklichkeitsgemäßen“ Begriffen. In der Qualität „individueller“ Begriffe ergänzen sich die Begriffe verschiedener Menschen widerspruchsfrei (vgl. den eingerückten Abschnitt auf S. 33); darüber hinaus, also auf dem Weg zu „wirklichkeitsgemäßen“ Begriffen, nähert sich das Verständnis der Menschen der Sache bzw. Thematik immer noch weiter an, ihr Begriff wird sozusagen immer gleicher. Denn die Sache bzw. Thematik selbst ist ja so wie sie IST, d. h. letztlich für „ALLE“ dieselbe. Beispiel: Was ist eine (oder was ist das Wesen einer) Primzahl? Alle, die’s wirklich begriffen haben, haben den selben Begriff. Das ist in diesem mathematischen Beispiel so vollkommen unzweifelhaft klar, weil der Begriff der Primzahl absolut ein(!)deutig ist – ein sehr schön sprechendes Wort in diesem Zusammenhang. Das Wort Ein(!)sicht ist auch ein schönes in diesem Zusammenhang.
Metaphern: Nein, das meine ich nicht.
Beim Begriff Wirklichkeit sehe ich die Schwierigkeit, dass sie wahrscheinlich unendlich komplex ist. Jede Erkenntnis, die wir über einen Teilaspekt der Wirklichkeit gewinnen, blendet dann sehr viele (oder unendlich viele) möglichen Erkenntnisse über andere Teilaspekte aus. Da jeder Mensch andere Teilaspekte wichtig findet und herausgreift, unterscheiden sich die Erkenntnisse und Begriffe der Menschen stark. Können wir wirklich sehen und entscheiden, ob sich unser Erkenntnisstand „der Wirklichkeit, so wie sie ist“, annähert? Müssten wir dazu nicht eine Ahnung von der gesamten Komplexität haben, die wir aber praktisch niemals haben können? Das macht m. E. den Maßstab Wirklichkeit und die Eigenschaft „wirklichkeitsgemäß“ problematisch.
Sehr geehrter Herr Kalverbenden, Ihre geäußerten Bedenken und Fragen bestehen völlig zu recht. Die Wirklichkeit ist letztlich „unendlich komplex“, wie Sie sagen. Die Absicht dieses Artikels hier zum Begriff „Wirklichkeit“ war zunächst allerdings nur, ihn in seiner Gesamtgestalt darzustellen bzw. zu charakterisieren und ihn in seinem Verhältnis zum Begriff Wahrheit abzugrenzen.
Für Ihre daran anschließende Fragestellung verweise ich auf die Seite #Begriffsbildung im Glossar: Dort wird Ihre Fragestellung zum Teil bereits beantwortet, nämlich wie unser Erkenntnisfortschritt im Prinzip immer geschieht und bis zu welchen Ergebnissen er führen kann. Im Buch wird das ausführlich und genau beschrieben, insbesondere die qualitativ verschiedenen Stufen der Genauigkeit bzw. Tiefe unserer Begriffe, von auto-relationalen über relative hin zu individuellen Begriffen. Dort sind die von Mensch zu Mensch jeweils verschiedenen „anderen Teilaspekte“ unserer Erkenntnisbemühungen zu finden, von denen Sie sprechen; und dann schließlich können unsere Erkenntnisse auch allgemeingültiger werden, indem sie sich an die Wirklichkeit annähern und angleichen können, nämlich in Form von wirklichkeitsgemäßen Begriffen von den jeweils ganz konkreten Dingen und Phänomenen.
Zu Ihrer Fragestellung gibt es dann noch im Epilog einen längeren Abschnitt, in dem die Problematik thematisiert wird, dass unsere Erkenntnisfortschritte leider(!) immer nur peu à peu stattfinden und allzu oft leider auch in nur sehr langwierigen und mühsamen Prozessen, vor allem gesamtgesellschaftlich gesehen. Allerdings besteht für jeden Menschen jederzeit die Möglichkeit, sich übergeordnete Begriffe für die eigene Lebensorientierung aktiv und bewusst zu erarbeiten und dann auch dementsprechend zu handeln. Mit freundlichen Grüßen, R. Dyckerhoff